Indigenes Enlhet-Institut - Chaco, Paraguay

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Aufnahmen des Enlhet-Instituts "Nengvaanemkeskama Nempayvaam Enlhet" ("Unsere Sprache und unser Wissen wachsen lassen")

Im Herbst 2020 hat der VB-Vorstand beschlossen, ein Projekt mit und für Enlhet-Indigene in Paraguay durch zweckgebundene Spenden zu unterstützen. Der Kontakt dorthin bestand über Hannes Kalisch, der im Juli 2023 leider verstorben ist. Er sprach nicht nur die Sprache dieses Volkes, sondern hat auch über diese Sprache wissenschaftlich gearbeitet. Um die nur mündlich überlieferte Geschichte und Kultur dieses Volkes zu bewahren, hat er zusammen mit einem Angehörigen der Enlhet, Ernesto Unruh, seit etwa 20 Jahren eine Vielzahl Interviews mit alten Enlhet-Frauen und Männern auf Tonträgern festgehalten – Menschen, die noch die Zeit vor Beginn der Kolonialisierung 1927 und den Chacokrieg 1932 bis 1935 erlebt haben. Gerade, wenn wir uns mit der Kolonialgeschichte als einer der wesentlichen Ursachen des Rassismus beschäftigen, bietet das Schicksal der Enlhet ein noch nicht lange zurück liegendes Beispiel, das uns betroffen machen kann. In Absprache mit dem Bruder Martin Kalisch haben wir beschlossen, die Projektzusammenarbeit und die damit verbundenen Spendenflüsse Ende 2023 auslaufen zu lassen. 

Aktuelle Informationen zur Arbeit finden sich hier: https://enlhet.org/nne_deutsch.html

Zudem gibt es audiovisuelle Eindrücke aus der Welt der Enlhet (auf Enlhet und Spanisch) auf der Seite des Instituts: https://enlhet.org/audiovisual.html

Das auf Deutsch herausgegebenen Buch „Wie schön ist Deine Stimme“ enthält ausgewählte Interviews und kann hier online bestellt werden: https://www.epubli.de/shop/buch/Wie-sch%C3%B6n-ist-deine-Stimme-Hannes-Kalisch-Ernesto-Unruh-9783956453526/61724

 

Der nachfolgende Bericht und der Projektbrief im Anhang geben näheren Einblick in die Arbeit.

Kaymaap-Takhaalhet ist 2019 in Paraguay gestorben, in einem Reservat inmitten einer Kolonie deutschsprachiger Einwanderer. 1925 wurde er in derselben Gegend geboren. Damals verfügten die Enlhet frei über ihr Land, das noch kein südamerikanischer Staat vereinnahmt hatte. Falls ein Fremder auftauchte, war er ein einzelner Besucher.

Das hat sich nach der Geburt von Kaymaap-Takhaalhet bald geändert. Von 1932 bis 1935 führten Paraguay und Bolivien einen erbitterten Krieg um die Region; die Gewalt der verfeindeten Heere richtete sich gezielt auch gegen die einheimische Bevölkerung. 1932 brach eine Pockenepidemie aus, der in wenigen Monaten mehr als die Hälfte der Enlhet zum Opfer fielen. Schon ab 1927 begann zudem die massive Einwanderung (platt)deutschsprachiger Mennoniten. Die Kolonien, die diese in den folgenden Jahren und Jahrzehnten aufbauten, umfassen heute das gesamte Enlhet-Land und zählen zu den wirtschaftlich stärksten Zonen in Paraguay. Die Enlhet ihrerseits verloren das Recht an ihrem Land und wurden auf wenige Missionsstationen reduziert, die heute comunidades heißen und eine Art Reservat sind. Diese comunidades sind nach mennonitischem Modell gestaltet und werden von Mennoniten verwaltet. Es sind die Einwanderer, die bestimmen, was für die Enlhet gut ist.

Jedes Mal wenn Kaymaap-Takhaalhet von den Erfahrungen seiner Kindheit berichtete, war er erneut an die traumatischen Erlebnisse jener Zeit ausgeliefert und sie haben ihn frisch aufgerührt. Dennoch haben er und andere Männer und Frauen aus seiner Generation unermüdlich ihre Erfahrungen bezeugt (einige ihrer Stimmen sind in Wie schön ist deine Stimme auf Deutsch veröffentlicht). Die Generationen nach ihnen dagegen sind weitgehend verstummt. Sie verdrängen ihre Wunden, obwohl diese noch schmerzen. Allmählich vergessen sie ihre Geschichte, obwohl diese doch ihre Gegenwart mitbestimmt. Ihnen fehlen oftmals Worte, um jene Hand­lungs­potentiale zu bedenken und umzugestalten, die im konkreten Leben doch weiterhin sichtbar sind. All das lähmt.

Nengvaanemkeskama Nempayvaam Enlhet hat in den letzten zwanzig Jahren umfassend auf Enlhet die Stimmen der Zeugen über den großen Wandel festgehalten. Das geschah aus der Überzeugung heraus, dass die Enlhet ohne die Zeugnisse aus dem Schoss ihrer eigenen Gesellschaft mit ihrer Unterwerfung nicht nur ihr Land und ihre Freiheit verloren hätten, sondern auch ihre Vergangenheit. Als Volk ohne Geschichte müssten sie widerstandslos glauben, was ihnen von außen gesagt wird: Sie selbst seien dafür verantwortlich, wie sie heute leben. Tatsächlich, es erscheint ihnen heute normal, dass sie, auf kleine Reservate reduziert, wie Fremde in ihrem eigenen Land leben. Sie müssen ihren Alltag, vieler Handlungsmöglichkeiten beraubt, gestalten und glauben oft selbst, es entspräche ihrer Wesensart, dass sie wie gelähmt leben. Sie verkennen und negieren deshalb zahlreiche ihrer Potentiale. Dennoch sind viele von diesen nicht vollständig erloschen.

Mit den Berichten der Zeitzeugen verfügt die Enlhet-Gesellschaft über ein Hilfsmittel, mit dem sie die kleine Glut wieder anfachen kann, die noch in ihr glimmt. An diesen Berichten von früher können sie nämlich erkennen, dass es auch andere mögliche Lesarten der Geschichte gibt als die derer, die dort heute das Sagen haben. Deshalb ist auch eine andere Zukunft als die möglich, die ihnen in ihren Reservaten zugedacht wird. Die Berichte der Zeitzeugen sollen dazu beitragen, dass den Enlhet ihre Wunden deutlicher bewusst werden, dass sie den Schmerz zulassen und daher über ihn zu sprechen lernen. Wenn sie außerdem die Begrenzungen der Gegenwart als das Ergebnis eines historischen Prozesses begreifen, können sie allmählich erkennen, dass diese Begrenzungen nicht darin begründet sind, dass sie als „Indianer eben unterentwickelt sind“, wie es oft heißt. Damit entstehen ihnen neue Räume, so dass sie sich auf ihre Fähigkeiten besinnen und neue Handlungsfähigkeit erlangen können.

Hannes Kalisch, Paraguay, 20.5.2021