Welche Wege gibt es jenseits von Überforderung und Resignation?

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Bericht vom 14. Werkstatt-Tag in Magdeburg "Schluss mit den Sackgassen"

Barbara Bürger berichtet

Wenn Du folgenden Bericht liest, hast Du mehr davon, wenn Du ihn nicht in einem Zuge liest, sondern zwischendurch pausierst und in Dich hinein horchst, was Dein eigener Beitrag dazu wäre.

Wie gehen wir um mit dem, was wir täglich erleben?

So Vieles gibt Grund zu großer Sorge: Klimawandel, Artensterben, Kriege, Pandemien, Hungertod, Zusammenbruch von Lieferketten, Unsicherheit der Energieversorgung.

Wenden wir uns ab, weil uns das alles überfordert oder wagen wir es, hinzuschauen?

17  Teilnehmer*Innen kamen am  5.11.22 in der Magdeburger Hoffnungsgemeinde zusammen, um für 7 Stunden in einen gemeinsamen Lernprozess zu treten mit der Frage:

Welche Wege gibt es jenseits von Überforderung und Resignation?

Regina Bernhardt, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Tiefenökologie, erläutert zunächst die vier Schritte zur Transformationsarbeit aus der Tiefenökologie, denen wir uns an diesem Tag stellen wollen:

1. Dankbarkeit,

2. Unseren Schmerz für die Welt würdigen

3. Mit neuen Augen sehen

4. Weitergehen und handeln

Diese vier Schritte korrespondieren in erstaunlicher Weise mit den 4 Schritten der GfK zur Klärung  in einer bestimmten Situation:

1. Beobachtung (anstelle von Bewertung, Interpretation)

2. Gefühle wahrnehmen

3. Bedürfnisse erkennen

4. Bitte formulieren konkret für diese Situation

Schon beim 1. Schritt, in welchem es in der GfK um Beobachtung geht,  d.h. um wertfreies Wahrnehmen dessen, was geschieht,  kommen wir in intensiven Austausch:  Alle  Informationen sind ja bruchstückhaft, oft subjektiv beeinflusst.

Wir informieren uns zu TodeUm sich ein genaueres Bild von den wirklichen Geschehnissen zu machen, gerät man/frau leicht in eine Informationsflut, die überfordert  – 'Wir informieren uns zu Tode' (so heißt ein kürzlich erschienenes Buches v. Gerald Hüter und Robert Burdy)

Wir ermutigen uns, achtsam die Quellen zu wählen,  denen wir vertrauen.  Außerdem braucht es  die Selbstfürsorge, auszuwählen und zu begrenzen in dem, was ich an Problemen an mich heranlasse,  wissend um diese Auswahl.

In der Tiefenökologie ist  im 1. Schritt  ein Raum  für Dankbarkeit  angesagt: 

Morgens oder/und abends eine Atemmeditation einschieben, den Atem spüren, der ein und aus geht, dabei etwas erinnern, was mir gegeben ist, was gut ist, was schön ist und trotz allem ja da ist.

Als Tipp: 3 Perlen in die Tasche stecken, tagsüber auf – auch kleine – Dinge achten, für die ich dankbar bin, dabei jeweils eine Perle in die andere Tasche stecken.

Einwand einer Teilnehmerin: Was mache ich, wenn ich in einer Phase bin, wo alles nur schwierig ist, wo mir jegliche Dankesübung als aufgesetzt erscheint?

Jemand antwortet: Dann such das Gespräch! Und eine andere erzählt: Mir hilft das Bibelwort und meine Erfahrung: 'Alles hat seine Zeit.' Es geht  Auf und Ab in meinem  Leben.

2. Schritt:  "Unseren Schmerz für die Welt würdigen" 

In der GfK ist dies: Gefühle wahrnehmen und zulassen. Unsere Gefühle sind da, sie brauchen keine Berechtigung, sie brauchen das Zulassen. Von Angst über Wut und Schmerz, Ohnmacht, Hoffnung, Sehnsucht bis hin zur Freude gibt es eine breite Palette im eigenen Inneren im Hinblick  auf das Weltgeschehen.

Wohin aber mit diesen Gefühlen, besonders dann, wenn sie mich zu überwältigen drohen?

Dem einen hilft regelmäßiges Lauftraining, der anderen Gartenarbeit, Austausch mit nahen Freunden, Gespräche mit dem persönlichen Lieblingsbaum, bei dem ich erzählen kann und dann lauschen, was zurückkommt von meinem Baum. 

Eine weitere Erfahrung von Hilfe ist, die Sorgen, die Wut, den Schmerz auf Kärtchen schreiben und an ein Kreuz stecken, das in der eigenen Wohnung als 'Altar' seinen Platz hat.

Regina hat in der Mitte  vier Symbole gelegt:

  • eine leere Schale für unsere Ohnmacht und Hilflosigkeit,
  • einen Stein  für die Angst,
  • einen Stock für die Wut,
  • ein Büschel trockene Blätter für Trauer und Schmerz.

Nun lädt sie die Gruppe ein. Wer möchte, kann sich zu einem der Symbole stellen und eine Sache nennen, die ihr/ihm gerade sehr zu schaffen macht.

Ein Teilnehmer nimmt den Stock in die Hand und erzählt, wie zornig er auf die Tagespresse ist, die Halbwahrheiten und Lügen verbreitet, Nichtiges breit publiziert, aber die Infos über die "Offene Heide" einfach nicht veröffentlicht.  Die Gruppe beendet seinen Beitrag mit "Wir hören Dich."

Immer mehr Teilnehmer*innen  gehen in die Mitte, sprechen aus, was sie belastet und  an ihnen zehrt. Trauer und Schmerz wiegen schwer.

Regina erinnert, dass ja die Kehrseite unseres großen Schmerzes die Liebe ist. Wir fühlen den Schmerz der Menschen im Krieg. Die Liebe treibt uns an. Die  Sehnsucht  nach unzerstörtem Leben für Kinder, Frauen, Männer, Tiere, die ganze Mitwelt, diese Liebe erfüllt unser Herz.

Das eigene Herz klopfen zu hören, die Liebe im eigenen Herze groß werden zu lassen, dazu braucht es regelmäßig Zeit. Karl Valentin sagte: "Heute besuche ich mich.  Mal schauen, ob ich zu Hause bin"

Es braucht Zeit und Aufmerksamkeit,  im eigenen Inneren anzukommen.

3. Schritt: Mit neuen Augen sehen – die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen

Regina schickte uns nach draußen in die Umgebung. Wir sollten etwas finden, das uns an eine große Sorge erinnert. Dann sollten wir uns um 90°  drehen und spontan etwas entdecken, das ein erfreuliches Gefühl in uns auslöst.  Etwas skeptisch zogen wir los und kehrten mit überraschenden Erfahrungen zurück. Bei allen hatte 'Es' geklappt.

Eine Teilnehmerin berichtete, dass sie in eine  Seitenstraße gegangen ist, die war zugeparkt voll mit dicken Autos.  Kein Platz für Radler, selbst hier am Stadtrand nicht,  typisch für Magdeburg.  Als sie sich umdrehte, sah sie die Breitseite eines riesigen Wohnblocks. Gerade wollte sie resigniert weggucken. Da entdeckte sie, wie unterschiedlich die Fenster sich zeigten: Mit und ohne Gardinen, Basteleien ans Fenster geklebt. Blumen.

Plötzlich wusste sie, dass da mit Sicherheit eine Reihe von Menschen wohnen, die genauso wie sie für eine bessere Radkultur in Magdeburg eintreten. –

Was mich sehr berührte an all den Beiträgen, sie waren persönlich und  leidenschaftlich.  "Mit neuen Augen sehen…" das heißt wahrnehmen, was  schon da ist,  wirklich verkörpert oder als Idee. 

Die nächste Aufgabe bestand darin, an Hand von drei Bereichen im Engagement, welche Regina mit 3 Symbolen  in der Mitte erläuterte, sich mit dem eigenen Tun  zuzuordnen.

Der 1. Bereich ist "Wunden verbinden"  (Symbol Binde).  Das sind all die Aktivitäten, in denen es um konkrete Hilfe geht, sei es Unterstützung für  Geflüchtete, Spenden an Katastrophenhilfe, soziale Projekte. 

Der 2. Bereich ist "Das System ändern" (Symbol grüne Pflänzchen). Das sind innovative Projekte, Genossenschaften, alternative Schulen u.a, die innerhalb des alten System eines neues pflanzen, so in den  Bereichen  Landwirtschaft, Wohnen, kaufen-verkaufen, Pädagogik, Heilverfahren uvm.

Der 3. Bereich ist "Bewußtwerdung, Bewußtseinserweiterung" (Symbol Brille).  Das ist das Wahrnehmen gegenseitiger Abhängigkeit,  der Prozess vom Gegeneinander der Ellenbogengesellschaft ins Miteinander zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und allen Wesen, Oiko-logie, die Lehre von der Wirtschaftsgemeinschaft aller Wesen.

Liebe Leserin, lieber Leser!  Gewiss bist Du in einem der 3 Bereiche verstärkt unterwegs. Oder bist Du in allen dreien tätig? Diese Unterscheidung der Bereiche ist hilfreich, um genauer wahrzunehmen, wo und wie und mit welcher Leidenschaft und Kompetenz wir unterwegs sind, wo es noch an Vernetzung fehlt, wo eine Kurskorrektur angesagt ist.   Wir können 'mit neuen Augen' wertschätzen, was schon passiert und uns neu ausrichten.

4. Weitergehen und handeln.  Erfreulich, wie kreativ und vielfältig die einzelnen unterwegs sind:  z.B. Initiativen besuchen und vernetzen, Bäume in der Stadt gießen und dabei ins Gespräch kommen, Stolpersteine putzen.

Ein nächster Schritt ist in Magdeburg der 15. Werkstatt-Tag mit Dr. Paul-Ernst Dörfler unter dem Thema "Krisenbefreiung selbst gemacht" – erprobte Rezepte für schwierige Zeiten,  am Sa, 4.2.2023.

Abschließend ein Hoffnungssatz von Arundhati Roy:

 "Eine andere Welt ist möglich. An einem ruhigen Tag kann ich sie atmen hören."

MD, 8.11.2022 Barbara Bürger