Antithesen zu Ullrich Hahn: Thesen zum verantwortlichen Wahlverzicht
I.
Die Teilnahme an der Wahl als solche (unabhängig vom Gewählten) bedeutet nur das Ernst-Nehmen, dass wir ihn dieser Welt in einer parlamentarischen Demokratie leben und unter Benutzung ihrer Strukturen und Regeln das (aktuelle) politische Kräfteverhältnis in unserem Sinne (mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden, mehr Bewahrung der Schöpfung) zu beeinflussen versuchen. Es legitimiert Aufgabenübertragung auf Zeit, nicht eo ipso "Herrschaft" und auch nicht den Nationalstaat als non plus ultra (vgl. u.a. Europa-Bemühungen). Die Beauftragung hat zugegebenermaßen begrenzte Reichweite, aber sie ist weit mehr als das "kleinere Übel" (das per se schon das Wählen ex negativ bestimmt). Denn rechtsstaatliche Strukturen sind erfunden worden, um Gewalt zu reduzieren, indem beispielsweise ein Wechsel von Machtinhabern ohne Blutvergießen reguliert wird. Wählen ist positiv zu bestimmen als die Wahrnehmung von Verantwortung in der Bejahung dieser Welt, die selbstverständlich noch nicht das Reich Gottes ist, aber im Hier und Jetzt unsere Mitarbeit nicht nur erfordert, sondern auch ermöglicht (und umgekehrt).
II.
Durch die Teilnahme an einer Wahl nehme ich ein Minimum an politischer Verantwortung wahr, noch nicht das Maximum. Nur wer sich auf das Wählen beschränkt, gibt de facto Verantwortung ab. Es bleiben die Aufgaben jedes Staatsbürgers und jeder Staatsbürgerin:
- sich selbst zumindest über die wichtigsten Fragen ein eigenes Urteil zu bilden, unbeschadet dessen, dass wir auf den Einzelgebieten in der Regel nicht Experten sein können;
- die gewählten Vertreter/innen kritisch zu begleiten, ihnen "auf die Finger zu gucken", ggf. die Diskussion zu suchen und Rechenschaft zu fordern;
- wenn (b) zur Wahrnehmung von (a) nicht ausreicht, nach weiteren Wegen zu suchen (z.B. Aktionen, u.U. ziviler Ungehorsam).
Die Realisierung von (b) ist nicht unmöglich, wie oft behauptet wird, sie bedarf vielmehr der Initiative und Aktivität. (So verstehe ich im übrigen vieles, was VB-Mitglieder tatsächlich tun.)
Darüberhinaus ist sicher auch richtig, dass weitere Formen eines besseren Rückbezugs der Volksvertreter an das Volk gefunden und etabliert werden sollten, damit das Mandat nicht gegen den Willen der Vertretenen ausgeübt wird - was ja Missbrauch der Vertretung wäre, und nicht ihr Sinn. Eine stärkere (nicht eine totale) Rückbindung des Mandats und evtl. auch eine Abrufbarkeit könnte die Legitimation konkreter politischer Entscheidungen erleichtern, erlebte Fremdbestimmung abbauen und die politische Kultur verbessern. Zu dem gleichen Zweck werden ja basisdemokratische Elemente zur Ergänzung des Grundgesetzes vorgeschlagen.
III.
Die Teilnahme an einer Parlamentswahl ist Ausdruck eines wie auch immer zustandegekommenen politischen Willens; einen "Wunsch an Teilhabe an der Staatsgewalt" und der Ausübung von Meinungszwang sollte und darf man nicht generell unterstellen.
Wer von seiner Meinung überzeugt ist, wirbt für sie - im politischen wie im religiösen Bereich. Die Qualität der Mittel ist jedoch ethisch, rechtlich und religiös zu bewerten.
Um dem Unterschied von Werbung und Aufzwingen eine Form zu geben, gibt es gerade die Institution der Wahl, so wie es im persönlichen Bereich das Gespräch und in überschaubaren öffentlichen Bereichen die Diskussion gibt. Keine Form von Meinungsbeeinflussung und Meinungsbildung enthebt den Einzelnen der Notwendigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Umgekehrt ist Wählen nicht nur eine notwendige Regelung, sondern auch Partizipation. "Zur Demokratie [...] gehören nicht nur Einrichtungen der Verfassung, Institutionen der Mitbestimmung, sondern das lebendige Interesse der Bürger an ihrem Staat und der Ursprung dieses Interesses aus dem Rechtsgefühl" (Gustav Heckmann). Die Beteiligung am politischen Leben ist mit Recht ein durchgängiges Desiderat politischer Bildung. Sie entspricht nicht nur dem Bildungsziel des mündigen Menschen bzw. Bürgers/in, sie kann auch Ausdruck der Vision oder der Überzeugung sein, unter den Bedingungen des "Noch nicht" schon jetzt am Reich Gottes zu arbeiten und mitzuarbeiten bzw. dazu aufgerufen zu sein.
Wer Gewaltverzicht zum "Bekenntnis" macht, dem man nur in gesinnungsethischer Reinheit entsprechen könne, wird handlungsunfähig. In meinen Augen ist Gewaltfreiheit eine regulative Idee, an der die Einzelentscheidungen zu messen sind darauf, ob sie auf Gewaltabbau hinzuwirken geeignet sind. Gewalt ist von Macht zu unterscheiden: Machtausübung ist nicht nur in dieser Welt nicht vermeidbar, weder im politischen, noch im persönlichen Bereich; sie kann auch zum Guten erfolgen und sollte nicht als solche diskreditiert oder gar dämonisiert werden. Es kann sinnvoll sein, Macht anzustreben, primär um eines Zieles willen, aber u.U. auch um der eigenen Person willen. Von Gewalt gilt das nicht, sie ist immer verwerflich.
Wer Herrschaft überwinden will, darf sich nicht entziehen, sondern hat die Diskussion zu suchen und auf Entscheidungsformen hinzuwirken, die dem Konsensprinzip möglichst nahekommen.
IV.
Der Aufruf zum Wahlverzicht fördert politische Illusionen, weil er auf einem "Alles-oder-Nichts"-Denkmuster beruht.
Ich halte ihn sogar für gefährlich, indem er diese Welt und ihre Strukturen einseitig dem Abzulehnenden zuordnet ("das System ist böse") und daher selbst gerade eine differenziertere Wahrnehmung der realen politischen Verhältnisse verhindert. Wer das Reich Gottes nur als das ganz Andere zu dieser Welt betrachtet, läuft Gefahr, sich auf letztere entweder gar nicht einzulassen, oder aber nur mit einem Totalanspruch, der unheilvolle Wirkungen nach sich zieht. Die Veränderung politischer Verhältnisse erschöpft sich nicht, aber beginnt mit der Übernahme eigener Verantwortung. Wer - zusammen mit Menschen gleicher Überzeugung - die politische Meinungsbildung beeinflussen will, kann nicht von den vorhandenen Strukturen absehen, sollte sie vielmehr nutzen.
Es ist richtig, dass das offene Gespräch das wirksamste Mittel gegen rechtes Gedankengut ist, wie es überhaupt langfristig das wirksamste Mittel politischer Einflussnahme ist. Man darf aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass das Gewicht einer relativ geringen Stimmenzahl in dem Maße zunimmt, in dem die Wahlbeteiligung sinkt - das ist eine schlichte Proportionalitätsrechnung', deren Auswirkungen man sich deutlich machen muss. Wahlverzicht, auch wenn er "verantwortlich" zu sein meint, verkennt diese Art von Folgen-Verantwortung völlig.
Wähler mit Börsenspekulanten zu vergleichen (im Sinne prinzipieller Systemkritik) halte ich für unverantwortlich im Sinne politischer Bildung in einer Demokratie. Wählende nehmen ihr Minimum an Partizipation wahr, und sollten dafür nicht diffamiert werden.
Auch über die Wahl-Motivation darf nicht unvorsichtig geurteilt werden. Wer wählt, muss nicht unkritisch sein und baut nicht zwangsläufig auf Versprechen von "Hoffnungs- und Leistungsträgern" - genau diese Kritik trägt selbst zur Überhöhung von Politikern bei und schiebt ihnen gleichsam eine religiöse Qualität im säkularen Bereich erst zu.
Wir sollten nüchtern die Möglichkeiten politischer Einflussnahme sehen, aber auch die Fortschritte in der Politik und vor allem den politischen Strukturen im historischen Maßstab nicht übersehen. Wer sich nicht selbst das Wahlrecht hat erobern müssen, steht wohl in der Gefahr zu vergessen, welche Errungenschaft an Freiheit und Selbstbestimmung darin liegt im Verhältnis zu vergangener Unfreiheit und Fremdbestimmung. Es ist auch eine pädagogische Aufgabe, dieses Bewusstsein wach zuhalten.
Die religiöse Überzeugung, in dieser Welt von einer anderen Welt zu sein, ist damit nicht unvereinbar. Sie sollte aber nicht dazu verleiten, diese Welt nach dem Alles oder-Nichts - Denkmuster zu verachten sondern ihre Errungenschaften wohl als begrenzte, vorläufige, aber dennoch Fortschritte auf Freiheit und Gerechtigkeit hin zu schätzen und an ihre Verbesserung selbst Hand anzulegen - nicht nur, aber auch durch Wählen!
Vgl. auch das Streitgepräch von Ullrich Hahn mit Theodor-Ebert zu diesem Thema.