Rückblick auf eine rassismuskritische Lernreise, Schritte bei der JT und Ausblick
Annette Kübler berichtet von der Jahrestagung 2022, insbesondere von der Sitzung der Kommission Beloved Community am Samstag, die sie gemeinsam mit Ljubinka Petrovic-Ziemer leitete.
Rückblick auf die rassismuskritische Lernreise im VB
Zu Beginn der Kommissionssitzung der Beloved Community auf der Jahrestagung 2022 teilte ich meinem subjektiven Rückblick auf die rassismuskritische Lernreise im VB seit 2016. Hier zunächst eine Zusammenfassung davon:
Allzu oft steckte und stecke ich in Schuldgefühlen fest. Sie entstehen zum Einen aus meiner evangelischen Sozialisation. Zum Anderen daraus, dass ich eine „Gute“ sein möchte und weil ich gleichzeitig weiß, dass ich in dieser Gesellschaft bevorzugt bin und diese Bevorzugung nur möglich ist, weil andere Menschen Ausgrenzung und Abwertung erleben.
Dies brachte und bringt mich immer noch alltäglich ins Hinterfragen. Denn ich möchte in einer gerechteren Welt für alle Menschen leben. Oder möchte zumindest jeden Tag ein Stück mehr darauf hin arbeiten.
Wenn Schuldgefühle mir im Weg stehen, hilft mir diese Aussage von Audre Lorde(1):
„Schuldgefühle und Verteidigungshaltungen sind die Steine einer Mauer, an der wir alle zerschellen werden, denn sie dienen keiner für uns wünschenswerten Zukunft.“(2)
Dieses Zitat passt zu Beobachtungen, die ich innerhalb des VBs auf den Jahrestagungen machte.
Mir fiel auf, dass sich viele der Teilnehmer*innen dem weißen westdeutschen Bildungsbürger*innentum zuordnen lassen. Im VB sind weiße Menschen, die gesellschaftlich hoch anerkannte akademische Abschlüsse haben. Sie haben entsprechend der gesellschaftlichen Sozialisation wenig Sensibilität für Rassismus und das eigene Weiß-Sein. Sie scheinen gar nicht zu bemerken, wie rassistische Ignoranz destruktiv für den VB ist. Denn ein wesentliches Ziel des VB ist Streben nach Gerechtigkeit.
Dazu passen punktgenau diese Worte von James Baldwin:(3)
„Ignoranz, verbunden mit Macht, ist der schlimmste Feind der Gerechtigkeit.“
Diese Ignoranz ist eine Form von Gewalt, die für BIPoC(4) kaum auszuhalten ist.
Woher ich das weiß? Ich habe viel dadurch gelernt, dass ich BIPoC zugehört habe. Und weil ich weiter BIPoC zuhöre, lerne ich weiter und merke immer wieder, wie viel es für mich noch zu lernen gibt und wie oft ich mich immer noch rassistisch verhalte.
Mehrfach lud ich BIPoC als Referent*innen zu Jahrestagungen ein. Ich erhielt von ihnen und anderen teilnehmenden BIPoC immer wieder klares Feedback. Sie erlebten zusätzlich zu der rassistischen Ignoranz rassistisches Othering(5), was beides extrem gewaltvoll und damit u.a. verletzend und entwürdigend ist. Viele erlebten auf der Jahrestagung so viel Rassismus, dass sie nicht bereit waren, ein weiteres Mal zu kommen. Dieses Verhalten und die Konsequenzen daraus legte und legt deutlich rassistische Strukturen innerhalb des VBs offen.
Durch diese Feedbacks sah und sehe ich mich einmal mehr mit meinen weißen Privilegien und den gegenwärtigen Machtstrukturen konfrontiert: Denn ich erlebe rassistisches Othering und Ignoranz – wenn ich es überhaupt wahrnehme – als diejenige, die andert, ignoriert oder beobachtet.
Und so wird mir deutlich: Ein von mir gut gemeinter Ansatz war Grundlage von Gewalt gegen BIPoC, ohne dass die weißen Teilnehmer*innen diese Gewalt wahrnahmen. Dass mein Ansatz nicht reicht, wusste ich. Für mehr sah ich keine Möglichkeiten, weil es mir an Verbündeten fehlte. Ich hoffte, dass dieser Ansatz erste positive Impulse zu weiteren Entwicklungen geben kann. Dass das rassistische Verhalten so krass sein würde, hatte ich mir weiß-naiv nicht vorgestellt.
Ich bin dennoch zuversichtlich, dass der VB ein diskriminierungskritischer Verband werden kann.
Gründe hierfür sind auch viele gelungene Workshops und ermutigende Gespräche, die Arbeit in der Kommission Beloved Community und die Begleitung durch Tsepo Bollwinkel Keele(6). Auch die Einladung von Imeh Ituen(7) als Hauptreferentin zur Jahrestagung 2021, die Auseinandersetzung mit weißer Dominanz in den Talks am Sonntag und der Beginn rassismuskritischer Reflexionen im Vorstand stimmen mich ein wenig positiv.
Ich lade an dieser Stelle ein, das Feedback der Kommission zur Jahrestagung von 2018 in der Versöhnung 2021-01 noch mal zu lesen.
Tsepo Bollwinkel Keele brachte für die JT 2018 unmissverständlich auf den Punkt, was für Veränderung essentiell ist:
- Hört einfach zu, wenn Menschen Euch von Euch ungewohnten Perspektiven berichten.
- Habt den Mut, Euch aus der Wahrnehmungs-Komfortzone der gesellschaftlichen Mitte heraus zu bewegen.
- Haltet aus, dass es bei Fragen von „Race“ (Rassifizierung) und Gender nicht nur um individuelle Diskriminierungen geht oder um beklagenswerte seltsame Missstände, sondern dass dabei Grundfesten europäischer Identität – und damit Eurer Identität – infrage gestellt werden müssen.
Und: Friede sei mit Euch.
Es braucht Sichtbarkeit und die Perspektiven von BIPoC in der Mitte des VB
Nach meinem Rückblick positionierte sich Ljubinka Petrovic-Ziemer klar in der Sitzung der Kommission Beloved Community und machte deutlich, wie wichtig es ist, für Repräsentation von BIPoC zu sorgen:
„Für Veränderung im Kontext Rassismus und weißer Dominanz braucht es Sichtbarkeit und die Perspektiven von BIPoC in der Mitte des VBs.“
Um die rassistischen Strukturen innerhalb des VB abzubauen, ist es auch wichtig, einen Rahmen zu schaffen, in dem BIPoC gewaltfrei ihre Erfahrungen mit Rassismus innerhalb des Verbandes teilen können, wenn sie das wollen. Außerdem ist es wichtig, dass ihre Positionen als Expert*innen zu unterschiedlichen Themen, die dem VB wichtig sind, vertreten sind, als Referent*innen und als Teilnehmer*innen. Damit daraus Veränderung entstehen kann, ist es wichtig, dass weiße Menschen bereit sind, zuzuhören, zu lernen und gemeinsam mit BIPoC Veränderungen umzusetzen.
Bestärkt durch die Sitzung am Samstag der Jahrestagung arbeiten wir in der Kommission weiter, um Dominanzstukturen aufzubrechen und zur Verbesserung innerverbandlicher Dynamiken beizutragen.
Konkret stehen für die Kommision Beloved Community an:
monatliche Online-Treffen,
- Unterstützung der Befragung, die von Ljubinka Petrovic-Ziemer durchgeführt wird,
- gegenseitig aufeinander achten in diesem herausfordernden Engagement,
- Wochenendseminare der Kommission im August und Oktober 2022,
- dazu beitragen, dass Fragestellungen und Perspektiven jenseits weißer Deutungshoheit auf zukünftigen Jahrestagungen Platz finden,
- weiterhin inhaltliche Impulse einbringen, um koloniale Kontinuitäten aufzuarbeiten und dazu beizutragen, dass z.B. durch Reparationen, Power Sharing u.a. Gerechtigkeit und Versöhnung wachsen können.
- unsere Anliegen verstärkt in unseren Verband tragen, gut sichtbar mit dem neuen Logo für die Beloved Community, das Julia Pearson erstellte.
Handlungsschritte, die während der Sitzung und auch bei vorherigen Jahrestagungen erarbeitet wurden:
- Externe rassismuskritische Beratung, damit rassistisches Verhalten und Strukturen erkannt und verändert werden.
- Hinterfragen, wer gemeint und wer ausgeschlossen ist, wenn von „wir“ gesprochen wird.
- Auseinandersetzung mit Ausschluss-Mechanismen beim VB und wie sie abgebaut werden können
- Lasst uns hinterfragen, was wir im VB meinen, wenn wir von „gewaltfrei“ sprechen und hinsehen wo Gewalt im VB stattfindet. Unser Denken und Handeln ist durch unsere Gesellschaft durch Gewalt geprägt, die wir immer wieder reproduzieren.
- Sind wir bereit „gewalt-bewusst“ zu werden?
- Lasst uns im VB diskriminierungssensibler werden. Ein wichtiger Schritt dafür ist, dass wir achtsamer werden und lernen, richtig zuzuhören.
- Niemand ist frei von Fehlern, doch wiederholte Fehler sind Entscheidungen. Was es braucht, ist die Bereitschaft, Fehler aufzuarbeiten, um Wandel voran zu treiben.
- Diskriminierungskritischer Blick auf die Jahrestagung und den VB insgesamt:
- Wessen Perspektiven fehlen? – Wer nimmt welchen Raum ein? – Wer bestimmt die Themen, die Fragestellungen und Herangehensweise? – Wer bestimmt, was Vorrang hat? – Was steht in der Ausschreibung? – Wer referiert? Wer leitet Workshops? Und daraus folgend konkrete Veränderungen.
- Auch im VB müssen wir einen Blick für Sexismus, Rassismus, Adultismus, Ableismus etc. entwickeln und diese als alltägliche Gewalt begreifen. Es ist unsere Aufgabe, unser Verhalten und unsere Strukturen so zu verändern, damit der VB tatsächlich gewaltfreier werden kann. Dazu braucht es die Bereitschaft zu diesen Themen zu lernen und bezahlte Referent*innen zu engagieren. Zu dem veränderten Verhalten gehört auch zu lernen, was „no-gos“ sind (Worte, Fragen, Handlungen). Es gibt viele Veröffentlichungen dazu in Form von gedruckten Medien, Hörbüchern, Podcasts, andere Hörmedien und visuelle Medien.
- Safer Space ist eine Strategie für diese Unterstützung von BIPoC, die fortgesetzt werden muss. Safer Space muss ein Raum sein, den es von Beginn bis Ende der Jahrestagung gibt und nicht nur für ein paar Stunden als Workshop.
- Auch außerhalb von Safer Space müssen BIPoC von allen Teilnehmenden ernst genommen werden. Dazu gehört, dass zugehört und Erfahrungen und Grenzen ernst genommen werden. BIPoC sind jenseits ihrer Arbeit als bezahlte Referent*innen in den Pausen usw. keine kostenlosen Fortbildner*innen für weiße Teilnehmer*innen. Sie entscheiden, wann sie wie auf welche Fragen antworten oder nicht antworten. Dazu gehört auch, dass Ruhe-Tische mit ausreichend Plätzen für alle BIPoC gibt beim Essen gibt, die respektiert werden.
- Die Jahrestagung so verändern, dass BIPoC teilnehmen können, dass ihre Teilnahme „normal“ ist und sie nicht darauf reduziert werden, dass sie Vertreter*innen von BIPoC und deren Erfahrung sind.
Diese Weiterentwicklung ist nicht nur wichtig zum Schutz vor Gewalt auf der Jahrestagung, sondern notwendig für die Glaubwürdigkeit und Bündnisfähigkeit eines gewaltfreien Verbandes.
Für diese Weiterentwicklung wurde von der Beloved Community u.a. ein Antrag erarbeitet, in dem es darum geht, dass Teilnehmer*innen und Referent*innen, die BIPoC sind, zu Rassismus auf Jahrestagungen befragt werden.
Ein sehr wichtiger Schritt ist, dass der Antrag der Kommission zur Befragung zu rassistischem Verhalten und Strukturen auf Jahrestagungen trotz kontroverser Diskussion angenommen wurde.
Allerdings wurde in der Plenumsdiskussion der MV noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie nötig eine grundlegende Bildung zu Rassismus im Verband ist. Dies gäbe die Chance, dass weiße Menschen zumindest erahnen lernen, dass es relevante Realitäten jenseits weißer Deutungshoheit gibt.
Fußnoten
- Audre Lorde war eine US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin. Sie bezeichnete sich selbst als black, lesbian, feminist, mother, poet, warrior (Schwarze, Lesbe, Feministin, Mutter, Dichterin, Kriegerin)
- „Vom Nutzen meines Ärgers“ in: 1981, in Dagmar Schultz (Hg): Macht und Sinnlichkeit, 1986, https://blog.zwischengeschlecht.info/public/Audre_Lorde_Gigi11.pdf
- James Baldwin war ein Schwarzer US-amerikanischer Schriftsteller und Aktivist.
- BIPoC ist die Abkürzung von Black, Indigenous, People of Color und bedeutet auf Deutsch: Schwarz, Indigen und PoC. Der Begriff ‚People of Color‘ wird nicht übersetzt. Diese Begriffe sind politische Selbstbezeichnungen. Das bedeutet, sie sind aus Widerstand entstanden und stehen bis heute für die Kampfe gegen diese Unterdrückungen und für mehr Gleichberechtigung https://www.migrationsrat.de/glossar/bipoc/
- Othering - auf Deutsch: „zum Anderen machen“ oder frei übersetzt „andern“ - beschreibt den Prozess, mit dem ein Mensch oder eine (vorab konstruierte) Gruppe zum/zur „Anderen“ gemacht wird, um die (konstruierte) eigene Normalität zu bestätigen. Was als „normal“ gilt, ist gesellschaftlich durchgesetzt. Was als „normal“ durchgesetzt werden kann, ist Ergebnis gesellschaftlicher Mietverhältnisse. In diesem Othering-Prozess wertet die dominante Gruppe ihr Selbstbild auf, indem eine andere Gruppe als „anders“ oder „fremd“ klassifiziert und abgewertet wird.
https://bausteine-antimuslimischer-rassismus.de/wp-content/uploads/2020… - Tsepo Bollwinkel Keele, Jahrgang 1961, im deutschen Exil aufgewachsener Südafrikaner, nichtbinäre Person, männliche Performance, studierte Musik, heute 1. Solo-Oboist bei den Lüneburger Symphonikern, seit Jahrzehnten aktivistische Tätigkeiten in der Schwarzen Community, verheiratet, 2 Kinder
- Imeh Ituen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Globale Klimapolitik der Universität Hamburg und Teil von Black Earth, einem BIPoC Umwelt- und Klimagerechtigkeitskollektiv in Berlin
- Erfahrungen auf der JT 2018: https://www.versoehnungsbund.de/sites/default/files/2021-01/vers18-03-r…
- Bei der Jahrestagung 2022 gab es zum ersten Mal in der Geschichte des VBs einen sogenannten „Safer Space & Empowerment für BIPOC in mehrheitlich weißen Räumen“, angeboten von Tshiamo Petersen und Ljubinka Petrovic-Ziemer. Betroffene konnten hier eine Art Zuflucht finden, ihre Erfahrung wurden nicht in Frage gestellt und sie erfuhren Empowerment.