von Thomas Nauerth
Martin Niemöller gehört zu den prominenteren Namen in den Mitgliederlisten des VB. In Theologie wie Kirche aber scheint er fast vergessen. Dabei wäre gerade heute viel von ihm zu lernen, weil er selbst lebenslang ein Lernender gewesen ist. Berühmt wurde er als Initiator des Pfarrernotbundes 1933 und einer der Köpfe der Bekennenden Kirche. Damals aber war er ein traditionell deutschnational orientierter lutherischer Pfarrer, eine Mitgliedschaft im VB wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Widerstand gegen Hitler um der Kirche willen, ja, aber auf gar keinen Fall Pazifismus! Noch aus dem KZ heraus versuchte Niemöller sich zum Marineeinsatz zu melden!
Derselbe Martin Niemöller nun formulierte 1959, in einer öffentlichen Rede in Kassel: „mir ist erst jetzt klar, und dessen schäme ich mich, und zugleich bin ich dankbar dafür (…) daß es nicht zu spät kam, daß ich’s noch mitgekriegt habe: daß dieser Jesus ja mit der Gewaltanwendung zwischen Menschen nichts zu tun haben will (…) Das Böse mit Gutem überwinden, das ist eigentlich das, was uns Christen von anderen Menschen unterscheidet oder unterscheiden sollte. (…) Wir haben tatsächlich so getan, als ob wir privatim Christen sein könnten, und als ob wir dann in der Politik und im Völkerleben uns (…) wie die Verbrecher benehmen dürften und müßten“.
Aus drei Einsichten heraus, hatte sich Niemöller zum christlichen Pazifisten weiterentwickelt:
1. Die furchtbare Zerstörungsgewalt atomarer Waffen.
2. Die erschütternde Einsicht, auch der SS-Mann im KZ ist ein von Gott geliebter Mensch.
3. Nichts in der Botschaft des Neuen Testaments legitimiert tödliche Gewalt als Mittel.
Das Problem der atomaren Waffen scheint Auslöser für Niemöllers Wende gewesen zu sein. Niemöller, der Pfarrer, wendet sich 1954 ratsuchend an eines seiner Gemeindemitglieder, den „Professor Hahn, den Nobelpreisträger“. Er hört aufmerksam zu. Er denkt nach. Niemöllers Erschrecken über die furchtbare Situation, in der die Menschheit durch die atomaren Waffen geraten ist, führt ihn zur Überzeugung, dass der Friede dieser Welt nun zur Aufgabe aller geworden ist. Friedenserhaltung kann und darf nicht mehr länger allein als Aufgabe allein der politisch Verantwortlichen angesehen werden: „Es ist ja unserer Generation durch die Ereignisse der letzten Jahrzehnte wie auch durch die gegenwärtige Lage, in der wir uns finden, nachdrücklich zum Bewußtsein gebracht worden, daß der Friede eine äußerst, reale Notwendigkeit darstellt, um die wir uns mit aller Energie zu bemühen haben, weil er unabdingbar zum „täglichen Brot“ gehört, d. h., weil wir ohne Frieden schlechterdings nicht leben können, wir nicht und die anderen nicht, unsere Kinder nicht und ihre Kinder nicht! (…) Dies Wissen bedeutet eine ungeheure Vertiefung unserer Verantwortung und Ausweitung unserer Verpflichtung, unserer Verantwortung und unserer Verpflichtung: wir können die Sorge um den Frieden nicht mehr anderen überlassen: wir sind allesamt und jeder einzelne gefordert, nachdem der Friede in unseren Tagen die politische Aufgabe für alle und für jeden, die politische Aufgabe schlechthin geworden ist. Sie verträgt keinen Aufschub, und sie duldet kein bloßes Theoretisieren; sie verlangt sofortige Maßnahmen und praktisches Handeln.“
Wenn Frieden die Aufgabe aller ist, dann hat man sich um Verbündete für die Erledigung dieser Aufgabe zu kümmern. Auch hier zögert Niemöller nicht, sondern schreitet gleich 1954 zur Tat. Heinz Kloppenburg, langjähriger Vorsitzender des deutschen Versöhnungsbundes, erinnert sich: „Als ich mich während der Zweiten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston 1954 bei dem (…) Pionier der Friedensarbeit A.J. Muste zur Aufnahme in den Internationalen Versöhnungsbund anmeldete, war am Morgen des gleichen Tages Martin Niemöller im gleichen Büro gewesen, um den gleichen Schritt zu tun.“
Niemöller hatte nach seinem Gespräch mit Hahn aber nicht nur nachgedacht, sondern auch nachgelesen. Er liest im Alter von 62 Jahren (seit 30 Jahren zudem evangelischer Pfarrer!) noch einmal das gesamte NT durch. Das Ergebnis erstaunt ihn: „Der Christ, der die Gewaltanwendung für eine Möglichkeit hält, um den Frieden zu gewinnen, zu fördern, zu sichern, der urteilt nicht als Christ, sondern auf Grund eigener Gedanken und Anschauungen, die er vielleicht für christlich halten mag und für die er sich allerdings auf eine lange kirchliche Tradition berufen kann; nur auf einen kann er sich dabei nicht berufen: auf Jesus, und eben so wenig auf seine apostolischen Zeugen!“
Niemöller nimmt 1954 auch eine sehr persönliche Erinnerung an seine Zeit im KZ neu auf: „Mir war im Konzentrationslager aufgegangen, daß Gott ja nicht bloß für mich, den Häftling, seinen Sohn hat sterben lassen, sondern wahrhaftig auch für den schwarz uniformierten SS-Mann und für den Henker, und daß ich meine Verantwortung nicht loswerden kann dadurch, daß ich meine Arme verschränke und sage: Die Leute gehen mich ja nichts an. Sie gehen uns etwas an!“ Die Leute, alle Leute, gehen uns etwas an, weil sie Gott etwas angehen, dies wird von Niemöller immer wieder in Variationen vorgetragen, es ist die eigentliche theologische Begründung seiner pazifistischen Haltung. „Als Christen ist uns der absolute Wert des Menschen, und zwar jedes Menschen Gewißheit, denn das besagt die Botschaft ja, daß diesem Menschen, und zwar jedem Menschen, ganz abgesehen von seinen besonderen positiven oder negativen Qualitäten die ganze Liebe und Hingabe Gottes gehört. (…) Das, meine Freunde, wissen wir Christen vom Wert des Menschen; das begründet für uns die Ehrfurcht vor dem Menschenleben. Und ich bin gewiß, daß wir, indem wir das Bezeugen, den eigentlichen, spezifisch christlichen Beitrag zu den Bemühungen um den Frieden leisten.“
Martin Niemöller war nach dem Krieg mit solchen Ansprachen zum Pastor der Deutschen geworden. Hier sprach einer, der dass, was er sagte, im eigenen Leben durchaus schmerzhaft gelernt hatte. Seine Rede war direkt, einfach und klar. Auch seine Ansprachen auf den Jahrestagungen des VB haben Spuren hinterlassen und eine lange Wirkungsgeschichte gehabt. Man kann auch heute noch mit seinen Texten viel anfangen. Zum Schluss daher ein Wort von Niemöller an die aktuellen Herren des Krieges in Moskau, Kiew, Berlin, Washington, Jerusalem und Gaza:
„Lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, was Frieden ist. Frieden machen heißt immer: Sich mit seinem Gegner verständigen wollen. Wer sich mit seinem Gegner nicht verständigen will, der soll das Wort Frieden nicht in den Mund nehmen, denn er will den Frieden nicht und in seinem Mund ist das Wort Frieden eine Lüge. (…) Und als zweites: Wenn ich Frieden will, das heißt, wenn ich mich mit meinem Gegner verständigen will, dann muß ich mich mit meinem Gegner aussprechen. Ohne dies geht es nicht. (…) Und darum sage ich: Wer Frieden sagt, aber mit seinem Gegner nicht sprechen will, in dessen Mund ist das Wort Frieden eine Lüge. Wir sollen darauf achten, wenn wir ehrlich bleiben wollen in unserem Denken, in unseren Entscheidungen, ob die Leute, die zu uns von Frieden reden, wirklich sich mit dem Gegner verständigen wollen und ob sie wirklich mit dem Gegner sprechen wollen, aber wir sollten mißtrauisch bleiben gegen die (…), die nicht mit dem Gegner sprechen wollen.“