Zum Ukraine-Krieg und zum 100-Milliarden-Sondervermögen

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Liebe Friedensinteressierte,

nachfolgend einige Beiträge zum Ukraine-Krieg und zum 100-Milliarden-Sondervermögen:

  1. SWP: André Härtel: Unmöglicher Frieden? Optionen für die ukrainisch-russischen Verhandlungen
  2. AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung: Friedenslogik statt Kriegslogik.
  3. Wissenschaft und Frieden: Kriegerische Verhältnisse
  4. BSV: Ziviler Widerstand in der Ukraine und in Russland
  5. Merkur: „Einige haben sich sofort widersetzt“ – Mutmaßlicher Offizier gibt Einblick in Putins Truppen
  6. The Guardian/Connection: „Sie waren wütend”: Russische Soldaten weigern sich in der Ukraine zu kämpfen
  7. Connection: Bundesministerium des Innern und für Heimat: Umgang mit Deserteuren und Oppositionellen aus der Russischen Föderation
  8. IMI: Jürgen Wagner: Ampel und Union verständigen sich auf 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr
  9. AGDF: Milliarden für Verteidigung sind „inhaltlich und demokratisch höchst fragwürdig“
  10. Kontext: Wochenzeitung: Clemens Ronnefeldt: Ukrainekrieg und Diplomatie: Verhandeln, verhandeln, verhandeln
  11. BSV-Online-Vortrag von Dr. Christine Schweitzer: Ohne Waffen, aber nicht wehrlos!

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1. SWP: André Härtel Unmöglicher Frieden? Optionen für die ukrainisch-russischen Verhandlungen

https://www.swp-berlin.org/en/publication/unmoeglicher-frieden-optionen-fuer-die-ukrainisch-russischen-verhandlungen

André Härtel

Unmöglicher Frieden?

Optionen für die ukrainisch-russischen Verhandlungen

Kurz gesagt 2022, 02.05.2022

Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine über ein Ende des Krieges kommen nicht voran. Zu weit scheinen die Positionen voneinander entfernt.

André Härtel stellt die wichtigsten Streitpunkte vor.

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Externe Souveränität einer zukünftigen Ukraine

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Interne Souveränität einer zukünftigen Ukraine

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Ungelöste Territorialfrage

2. AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung: Friedenslogik statt Kriegslogik.

https://pzkb.de/wp-content/uploads/2022/05/Stellungnahme-AG-Friedenslogik-PZKB_Friedenslogik-statt-Kriegslogik-1.pdf

20. Mai 2022 Friedenslogik statt Kriegslogik.

Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg

Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

11. Mai 2022

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Friedenslogik als Alternative

Der heuristische Ansatz der Friedenslogik versucht, vom Ziel des Friedens her zu denken und sich in Analyse wie Praxis an dessen Prinzipien auszurichten:

(1.) Für Friedenslogik ist das Problem die stattfindende oder bevorstehende Gewalt in all ihren Manifestationen – und zwar unabhängig davon, wer sie ausübt, worin sie sich äußert und wen sie betrifft. Ihre Handlungen orientieren sich am Ziel der Gewaltprävention und der Gewaltreduktion sowie des Aufbaus umfassender und nachhaltiger Friedensprozesse.

(2.) Friedenslogik begreift das Problem als Folge nicht gelöster bzw. destruktiv ausgetragener komplexer Konflikte. Ihre Handlungen zielen daher auf eine vielschichtige Konfliktanalyse und beziehen dabei eigene Anteile ein.

(3.) Friedenslogik setzt auf kooperative Konfliktbearbeitung. Ihre Handlungsansätze sind daher Deeskalation, Opferschutz und gewaltlose (dialogverträgliche und prozessorientierte) Konflikttransformation.

(4.) Friedenslogik rechtfertigt eigenes Handeln mit der Universalität von Völkerrecht und Menschenrechten. Eigene Interessen werden werteorientiert hinterfragt und im Sinne globaler Normen modifiziert.

(5.) Friedenslogik setzt bei Scheitern auf offene kritische Selbstreflexion. Sie räumt auch eigene Fehler ein und sucht nach gewaltfreien Alternativen.

Zur Begründung friedenslogischer Positionierungen im Ukrainekrieg

Wie lassen sich angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine und des hiesigen Kriegsdiskurses überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten? Zunächst müssen wir einräumen, dass auch wir Ungewissheiten und Dilemmata aushalten müssen: Wir wissen nicht, wie weit die russische Regie- rung in der Ukraine (und eventuell auch darüber hinaus) bereit ist zu gehen.

Wir wissen angesichts der Kriegsentschlossenheit der Parteien und der Rücksichtslosigkeit des russischen Aggressors nicht, ob das friedenslogische Handlungsspektrum jetzt oder zumindest in absehbarer Zukunft eine wirkliche Chance erhalten wird, den Krieg und das Leid der Menschen nachhaltig zu beenden.

Einige von uns stellen sich daher die Frage, ob nicht auch einzelne Maßnahmen jenseits der Frie- denslogik ergriffen werden müssten. Allerdings haftet auch dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an.

Daher gilt es dringend, vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das lange noch nicht, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürfte sogar das Gegenteil der Fall sein, nämlich dass sicherheits- oder gar kriegslogisches Handeln die Gewalt immer weiter verschlimmert. Für eine solche Einschätzung sprechen sowohl konkrete Erfahrungen im Ukrainekrieg als auch grundsätzliche Erwägungen. Beides geht in den folgenden Begründungskatalog ein.

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Friedenslogische Imperative gegen den Ukrainekrieg

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(1.) Gewaltbeendigung

Der Imperativ der Gewaltbeendigung verlangt zunächst danach, die Gewalt nicht weiter zu befeuern. Die bisherigen Waffenlieferungen haben den Krieg nicht gestoppt, sondern immer weiter in ihn hineingeführt. Sie tragen zu seiner Verlängerung und weiteren Brutalisierung bei.

Aber auch die massiven ökonomischen und finanziellen Sanktionen könnten nicht nur den erhofften Effekt zeiti- gen und die russische Kriegsmaschinerie zum Stillstand bringen, sondern sie sogar weiter anheizen, indem sie dazu animieren, mit immer massiveren Angriffen schneller ans Ziel zu kommen.

Während der Verhandlungsprozess seit Längerem stockt, haben sich nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine und ihre Unterstützer offenbar dazu entschieden, den Konflikt vor allem auf dem Schlachtfeld gewinnen zu wollen.

Nötig wäre stattdessen aber der Fokus auf eine kluge, alle Ebe- nen und Kanäle einbeziehende Krisendiplomatie, die den Parteien einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg ermöglicht. Hier bedarf es eines weitaus stärkeren Engagements, um die Verhandlungen wieder voranzubringen.

Wenngleich der Ukraine das Recht auf (auch militärische) Selbstverteidigung zusteht: Angesichts der massiven Kriegsfolgen und der weiteren Eskalationsgefahr sogar in einen dritten Weltkrieg wäre es dringend geboten, vermehrt auf friedenslogische Alternativen zu einem sich immer weiter entgrenzenden Verteidigungskrieg zu setzen, die sich am Ziel des Gewaltabbaus und der Gewaltbeendigung orientieren.

Dazu zählen ergänzend zur unverzichtbaren Krisendiplomatie beispiels- weise gewaltfreie Proteste gegen die Invasoren ebenso wie Maßnahmen sozialer Verteidigung, die durch Kooperationsverweigerung den Aufenthalt für die Besatzer erschweren.

Auch jede noch so kleine zivilgesellschaftliche Graswurzelarbeit gegen den Krieg und seine Folgen trägt zur Gewaltüberwindung und zum Friedensaufbau bei. Gleiches gilt für Kriegsdienstverweigerung und Desertion, die Signale der Tat gegen den Krieg senden.

Jeder Mensch, der vor dem Waffendienst in einer noch dazu kriegführenden Streitmacht flieht, muss – egal woher er kommt – darauf vertrauen können, dass ihm die internationale Gemeinschaft einen dauerhaft sicheren und auch würdigen Aufenthalt gewährleistet.

2.) Konfliktdeeskalation und Konflikttransformation

Der Imperativ der Konfliktdeeskalation impliziert vor allem zu verhindern, dass die NATO aktive Kriegspartei wird. Das Bündnis und einzelne Mitgliedstaaten balancieren schon auf ganz schmalem Grat: Dafür stehen beispielsweise die permanente massive Aufrüstung der Ukraine mit immer leistungsfähigerem und zusehends offensivtauglichem Kriegsgerät, die immense finanzielle Militär- hilfe, die Unterstützung durch westliche Geheimdienste, die Plädoyers osteuropäischer Staaten für eine NATO-„Friedensmission“ und für die Lieferung von Kampfjets MiG-29 sowie Diskussionen über die Einrichtung einer von der Allianz durchzusetzenden Flugverbotszone.

Angehörige ukrainischer Streitkräfte werden mittlerweile auch in Deutschland auf US-Stützpunkten und in der Artil- lerieschule Idar-Oberstein ausgebildet, was gemäß eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags „den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“ würde. Letztlich entscheidet aber weder Berlin noch Washington noch Brüssel, sondern Moskau darüber, welche Maßnahmen es als Kriegseintritt bewertet. Insofern sollte die NATO den Ritt auf der sprichwörtlichen Rasierklinge einstellen.

Stattdessen müsste es ergänzend zur gewaltbeendenden Krisendiplomatie um eine konstruktive Transformation dieses vielschichtigen Konflikts gehen, in dem sich Auseinandersetzungen inner- halb der Ukraine zwischen Kiew und den Separatistengebieten im Osten des Landes, zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Russland und dem Westen überlagern.

Dazu hätten alle Beteiligten sich nicht nur von einseitigen, gewaltorientierten Durchsetzungsstrategien zu verab- schieden, sondern auch an ihren Dominanzansprüchen bzw. Maximalforderungen Abstriche zu machen: Das betrifft beispielsweise bei der NATO das Selbstverständnis als Hegemonialakteur, bei Russland die imperialen Ambitionen in seiner Nachbarschaft und bei der Ukraine den strammen NATO-Integrationskurs.

Dass Kiew im Kontext der Istanbuler Verhandlungen Ende März einen Neutralitätsstatus, wenn auch mit Sicherheitsgarantieren versehen, ins Spiel gebracht hat, weist in die richtige Richtung.

(3.) Opferschutz und Leidmilderung

Der beste Weg, den Imperativ des Opferschutzes und der Leidmilderung zu verwirklichen, wäre die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen. Solange der Krieg jedoch andauert, sollte der Fokus nicht länger auf der Kampfkraftsteigerung der ukrainischen Streitkräfte als den mutmaßlichen Beschützern, sondern auf den Menschen selbst liegen, die Opfer von Gewalt geworden sind oder zu werden drohen.

Alle, die die Kampfregionen bzw. das Land verlassen wollen, sollen dies tun kön- nen. Das gilt auch für vulnerable und wenig mobile Gruppen sowie für Kriegsdienstverweigerer und Deserteur*innen. Es heißt also vornehmlich, sichere Fluchtwege zu vereinbaren und zu organisieren, Geflüchtete in der Erstankunft professionell zu betreuen und ihnen einen sowohl sicheren als auch würdigen Aufenthalt im Zufluchtsland zu garantieren. Menschen, die das Land nicht verlassen können oder wollen, ist freier Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten.

Dafür müssten von allen Kriegsparteien akzeptierte humanitäre Korridore eingerichtet werden, damit Hilfsgüter sicher an Ort und Stelle gelangen. Ein zumindest zeitweiliger Waffenstillstand würde die Bewältigung dieser Aufgabe erleichtern, da sich aufgrund der Kriegsdauer die Versorgungs- und Gesundheitslage der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten dramatisch zuspitzt.

Die internationale Staatengemeinschaft sollte grundsätzlich gegenüber allen Parteien auf die strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts pochen. Dazu gehört auch die Aufforderung an die russischen Streit- kräfte, auf den Beschuss von Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten und anderen zivilen Einrichtungen zu verzichten. Darüber hinaus machen sich die Folgewirkungen des Kriegs bereits in anderen Weltregionen in Form von Ernährungskrisen bemerkbar. Auch sie müssen bearbeitet werden.

(4.) Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten

Dieser Imperativ zielt auf die Verteidigung bzw. die Stärkung des Völkerrechts sowie der Menschenrechte, auf die sich auch die Friedenslogik bezieht. Diese sind mit dem Angriffskrieg und den bislang dokumentierten Kriegsverbrechen massiv verletzt worden. Wenngleich sowohl die UNO- Generalversammlung als auch der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Russlands verurteilt und somit die Gültigkeit des bestehenden Normsystems bekräftigt haben, geschieht doch die Befolgung völkerrechtlicher Standards durch Staaten auf freiwilliger Basis.

Weitere Kriegsverbrechen in der Ukraine können daher zwar nicht effektiv unterbunden werden, möglich bleiben jedoch symbolische Gesten und Appelle an die Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung zu verschonen.

An – auch zukünftiger – Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die Bemühungen nicht-staatlicher Akteure, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Insbesondere nach den Gräueltaten in Butscha ist dies von großer Dringlichkeit und sollte unbedingt unterstützt werden.

Zu werben wäre für eine unabhängige und angemessen ausgestattete – etwa von der OSZE mandatierte – Beobachtermission, die zur Verifizierung der Geschehnisse einen wertvollen Beitrag leisten und bestenfalls sogar gewaltmindernde Wirkung erzeugen könnte.

Dagegen stehen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Führungsmannschaft in einem Spannungsverhältnis zu anderen Imperativen der Friedenslogik, da ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen kaum ihre Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf überlebensnotwendige humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung und eine möglichst rasche Beendigung der Kriegshandlungen fördern dürfte.

Nichtsdestoweniger sollte die Dokumentation von Kriegsverbrechen auch auf dieser Ebene fortgeführt werden, stehen sie doch auch für den Befolgungsanspruch eines Völkerrechts, das auf Friedensförderung und Gewaltächtung ausgelegt ist.

(5.) Selbstreflexion und Empathie

Dieser letzte Imperativ verlangt nach kritischer Selbstreflexion im friedenslogischen Modus, der die eigenen Anteile sowohl am langen Weg in die Konfrontation seit Ende des Systemkonflikts als auch an der Zuspitzung der letzten Jahre gerade nicht tabuisiert, sondern bewusst thematisiert. Die Kehrseite heißt Empathie.

Diese bezeichnet das Bestreben, die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien einzunehmen, um sie besser verstehen zu können, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. Der Imperativ adressiert die Kriegsparteien selbst, aber auch alle anderen am Konflikt Be- teiligten.

Zwar hat im Westen bereits eine öffentliche Selbst vergewisserungsdebatte eingesetzt. Allerdings läuft sie bislang im Wesentlichen darauf hinaus, jegliche (vergangene, aktuelle und künftige) Friedenspolitik als naiv zu disqualifizieren und reflexartig für mehr Aufrüstung zu plädieren. So hat die deutsche Bundesregierung angekündigt, ein 100 Milliarden Euro schweres „Son- dervermögen“ für die Streitkräfte zur Verfügung zu stellen und den Verteidigungshaushalt dauerhaft auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben.

Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet aber: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der alle Beteiligten gleichberechtigt mitwirken konnten, sondern eine vom Westen dominierte asymmet- rische Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag (2009) – nicht aufgegriffen wurden.

Selbstreflexion bedeutet auch, aus den eigenen Fehlern zu lernen, um sie bei der Neugestaltung der europäischen Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs zu vermeiden. Zu diesen Korrekturverpflichtungen gehört auf westlicher Seite nicht nur das geostrategische Handlungsprogramm, sondern auch die innere Haltung, auf der es beruht.

Dazu zählt die Hybris desjenigen Akteurs, der sich als Sieger des Kalten Kriegs begreift, ebenso wie die normative und praktische Selbstbevorzugung, gemäß derer sich der Westen dazu berechtigt sieht, sich selbst mehr zu erlauben, als er anderen zuzugestehen bereit ist.

Eine wirkliche Friedensordnung, die mehr ist als eine prekäre Ab- wesenheit personaler Großgewalt, bedarf jedoch allseits anerkannter Institutionen und respek- tierter Verfahren konstruktiver Konflikttransformation, aber eben auch einer entsprechenden inneren Einstellung und bestimmter Einsichten, die sich folgendermaßen grob umreißen lassen: Demut eingedenk eigener Verfehlungen und eigener limitierter Gestaltungsfähigkeiten, Besinnung auf die Begrenztheit eigener Ansprüche auf die jeweils legitimen Anliegen, Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des politischen Gegenübers, Anerkenntnis der Ungeeignetheit militärischer Mittel für eine gezielte Gestaltung friedensverträglicher inner- wie zwischenstaatlicher Verhältnisse sowie Akzeptanz der Untauglichkeit konfrontativer Strategien für die Gewährleistung eines dauerhaft stabilen negativen Friedens.

Die gesamteuropäische Ordnung nach dem Ukrainekrieg – Plädoyer für ein Projekt der „Gemeinsamen Sicherheit wider Willen“

Auch wenn es derzeit nur schwer vorstellbar sein mag: Bereits jetzt muss über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Ukrainekriegs nachgedacht werden. Sogar ein Frieden, der sich auf das Ziel einer Vermeidung neuer Kriege beschränken würde, ist nur mit und nicht gegen Russland zu haben.

Dabei gilt es, die gegenwärtige Begrenzung des Denkraums auf einen „Kalten Krieg 2.0“ zugunsten einer Ordnung zu erweitern, die möglichst viele friedenslogische Elemente adaptiert und damit die Chance zur weiteren Friedensentfaltung impliziert. Diese Nahzielperspektive ließe sich, angesichts der gegenwärtig feindschaftlichen Beziehungsmuster, in der Formel einer „Gemeinsamen Sicherheit wider Willen“ verdichten.

Sie wird wohl die Identifizierung von Dissensen einschließen und Möglichkeiten ihrer weiteren Bearbeitung aufzeigen müssen. Das dürfte etwa bei Fragen der NATO-Osterweiterung, des Status der Krim, der Bewertung des Ukrainekriegs sowie der Aufarbeitung seiner Folgen, aber auch bei Fragen einer angemessenen staatlichen und gesellschaftlichen Verfasstheit der Fall sein.

Für ein solches Projekt wäre die OSZE der am besten geeignete Ort, handelt es sich doch um eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren in die Gesellschaftswelt: Sie stellt schon jetzt den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung, in dem alle direkt wie indirekt am Ukrainekonflikt Beteiligten formal gleichberechtigt eingebunden sind.

Außerdem ist sie bereits thematisch breit aufgestellt, auch wenn einzelne Elemente eventuell neu akzentuiert oder auch nachjustiert werden müssten. Darüber hinaus verfügt sie über eine – in die Zeit des Kalten Kriegs zurückreichende – Tradition einer Sicherheitskultur, die politische und militärische Blöcke überwölbt sowie normative Antagonismen und Differenzen entdramatisiert.

Und die neutralen und nicht-paktgebundenen Teilnehmerstaaten können hier strukturell abgesichert ihre wertvollen Erfahrungen bei der Auflösung festgefahrener Konstellationen mobilisieren.

Ein Projekt der „Gemeinsamen Sicherheit wider Willen“ dürfte aber nicht allein an die Staatenwelt delegiert werden. Vielmehr bedarf es der Vorbereitung und Unterstützung durch solche zivilgesell- schaftlichen Akteure samt ihrer Netzwerke, die über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Mediation und anderer Verfahren konstruktiver Konflikttransformation verfügen.

Dazu zählen auch religiöse Akteure wie die Kirchen, die ihren spezifischen Zugang zum Frieden einbringen können. Zudem sollten jene Kräfte einbezogen werden, die sich in den am Krieg beteiligten Ländern schon jetzt – wie etwa die Soldatenmütter in Russland oder die pazifistische Bewegung in der Ukraine – gegen den Krieg und seine Folgen sowie für Frieden engagieren oder anderweitig eine emanzipa- torische Graswurzelarbeit betreiben.

Ohne die konzeptionelle Vorbereitung und praktische Umsetzung eines konstruktiven Projekts drohen sich schlechte Prophezeiungen gleichsam selbst zu erfüllen.

Verfasser*innen und Unterzeichner*innen aus der AG-Friedenslogik:

Annette Fingscheidt, Wilfried Graf, Sabine Jaberg (Federführung), Christiane Lammers, Jochen Mangold, Angela Mickley, Beate Roggenbuck

Dieses Papier wurde initiiert von der Arbeitsgruppe Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.

Kontakt: friedenslogik@pzkb.de

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung ist das größte deutsche Netzwerk, das sich arbeitsfeldübergreifend die Förderung der zivilen Konfliktbearbeitung zum Ziel gesetzt hat. Die Plattform „zielt darauf ab, die in diesem Netzwerk Beteiligten bei ihrer Gewalt mindernden Arbeit zu unterstützen, miteinander zu verbinden und in ihrer Arbeit vor Ort effektiver zu machen“. (Auszug aus der Charta)

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3. Wissenschaft und Frieden: Kriegerische Verhältnisse

https://wissenschaft-und-frieden.de/ausgabe/2022-2-kriegerische-verhaeltnisse/

W&F 2022/2 Kriegerische Verhältnisse

Der Krieg gegen die Ukraine löste im Februar 2022 ein Beben aus: Er brachte in vielen Landesteilen der Ukraine unermessliches Leid und Tod über die Bevölkerung; Er erschütterte viele, die bis zuletzt für eine diplomatische Lösung gestritten hatten;

Er fegte in Deutschland scheinbar fest gefügte Gewissheiten in atemberaubendem Tempo beiseite. In einem aktuellen Krieg Reflexionen anzustellen, gebietet auch ein gewisses Maß an Demut, Nabelschau und Vorsicht – daher bringt W&F in dieser Ausgabe erste vorsichtige Analysen, Einschätzungen und Perspektiven: auf Solidarität, Soziale Verteidigung, die Rückkehr des Militärischen, auf die Sanktionsregime gegen Russland und einiges mehr.

Im zweiten Teil des Heftes diskutieren die Autor*innen an anschaulichen Fallbeispielen Neokolonialismus als einen Begriff mit Zukunft: für die Analyse andauernder kolonialer Machtverhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und militärischen Belangen. (…)

4. BSV: Ziviler Widerstand in der Ukraine und in Russland

https://soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine

Der BSV stellt hier Quellen zusammen, die von zivilem Widerstand in der Ukraine und Russland berichten.

Die Liste wird ständig aktualisiert.

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5. Merkur: „Einige haben sich sofort widersetzt“ – Mutmaßlicher Offizier gibt Einblick in Putins Truppen

https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-news-russland-armee-putin-offizier-verweigerung-bericht-cnn-truppen-kampf-91566673.html

„Einige haben sich sofort widersetzt“ – Mutmaßlicher Offizier gibt Einblick in Putins Truppen

Erstellt: 24.05.2022. Aktualisiert: 25.05.2022, 12:05 Uhr

Von: Janine Napirca

Moskau – Zahlreiche russische Soldaten sollen dem ukrainischen Geheimdienst zufolge den Dienst verweigert haben. Auch Kriegsgegner und -gegnerinnen sowohl in Russland als auch in der Ukraine berichten, dass viele Berufssoldaten und Wehrpflichtige in Russland sich weigern, zu kämpfen. (…)

—— 6. The Guardian/Connection: „Sie waren wütend”: Russische Soldaten weigern sich in der Ukraine zu kämpfen

https://de.connection-ev.org/article-3562

12. Mai 2022 „Sie waren wütend”: Russische Soldaten weigern sich in der Ukraine zu kämpfen

von Pjotr Sauer, The Guardian

Soldaten sagen den Offizieren Nein, da sie wissen, dass die Strafe gering ist, solange sich Russland technisch gesehen nicht im Krieg befindet.

Nachdem die Soldaten einer Eliteeinheit der russischen Armee Anfang April angewiesen wurden, sich auf einen zweiten Einsatz in der Ukraine vorzubereiten, brach in den Reihen der Soldaten Angst aus.

Die Einheit, die in Friedenszeiten im äußersten Osten Russlands stationiert ist, war bei Ausbruch des Krieges Ende Februar erstmals von Belarus aus in die Ukraine vorgedrungen und hatte sich erbitterte Kämpfe mit ukrainischen Truppen geliefert.

„Es wurde schnell klar, dass nicht alle mit an Bord waren. Viele von uns wollten einfach nicht mehr zurück“, sagte Dmitri, ein Mitglied der Einheit, der nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden möchte. „Ich möchte zu meiner Familie zurückkehren - und nicht in einem Sarg“.

Zusammen mit acht anderen Soldaten teilte Dmitri seinen Befehlshabern mit, dass er sich weigere, an der Invasion teilzunehmen. „Sie waren wütend. Aber schließlich beruhigten sie sich, weil sie nicht viel tun konnten“, sagte er. (…)

Pjotr Sauer: The Guardian: „They were furious”: t he Russian soldiers refusing to fight in Ukraine. 12. Mai 2022.

https://www.theguardian.com/world/2022/may/12/they-were-furious-the-russian-soldiers-refusing-to-fight-in-ukraine

7. Connection: Bundesministerium des Innern und für Heimat: Umgang mit Deserteuren und Oppositionellen aus der Russischen Föderation

https://de.connection-ev.org/pdfs/2022-05-17_IM.pdf

Bundesministerium des Innern und für Heimat

Beantwortung von offenen Fragen zu Top 1 („Bericht des Bundesministeriums des Innern und für Heimat über die aktuelle Lage im Ukraine-Konflikt sowie die damit verbundenen innenpolitischen Auswirkungen“) der Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat vom 11. Mai 2022

(…)

Umgang mit Deserteuren und Oppositionellen aus der Russischen Föderation

In jedem Asylverfahren werden Einzelfallentscheidungen auf Grundlage der individuellen, für den Asylantrag relevanten Sachverhalte, getroffen.

Bei russischen Deserteuren können bei der Prüfung der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes unter anderem folgende Aspekte berücksichtigt werden:

- Bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden kann für den Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation derzeit in der Regel von drohenden Verfolgungshandlungen (§ 3a AsylG) ausgegangen werden.

Verfolgungshandlungen kommen in Form menschenrechtswidriger Übergriffe in Betracht. In der Regel kommt es in einem solchen Fall insoweit nicht auf den Umstand einer im konkreten Einzelfall drohenden Beteiligung an Kriegsverbrechen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) an.

- Weiterhin kann derzeit davon ausgegangen werden, dass drohende Verfolgungshandlungen in der Regel in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) erfolgen.

Da bereits die Bezeichnung „Krieg“, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden.

Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes steht unter dem Vorbehalt, dass keine Ausschlusstatbestände (§ 60 Abs. 8 AufenthG, § 3 Abs. 2 AsylG) entgegenstehen (z. B. Beteiligung an Kriegsverbrechen vor der Desertion). Sollten Ausschlusstatbestände vorliegen, blieben aufgrund von Art. 3 EMRK nationale Abschiebungsverbote (insb. § 60 Abs. 5 AufenthG) zu prüfen.

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Ausführungen des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Innenausschuss ausschließlich auf die Situation von Deserteuren bezogen. Wehrdienstflüchtlinge waren von den Ausführungen nicht umfasst. (…)

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8. IMI: Jürgen Wagner: Ampel und Union verständigen sich auf 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr

https://www.imi-online.de/2022/05/30/einigung-auf-kriegskredit/

IMI-Standpunkt 2022/022 (Update: 31.5.2022)

Einigung auf Kriegskredit

Ampel und Union verständigen sich auf 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 30. Mai 2022

(…)

Im Gesetzentwurf heißt es: „Nach Verausgabung des Sondervermögens werden aus dem Bundeshaushalt weiterhin die finanziellen Mittel bereitgestellt, um das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und den deutschen Beitrag zu den dann jeweils geltenden NATO-Fähigkeitszielen zu gewährleisten.“

Die Verpflichtung auf die NATO-Fähigkeitsziele ist mehr als vage, schließlich hat die Bundesregierung einen weiten Spielraum selbst zu entscheiden, wieviel sie ins Bündnis einbringen will, wobei die Bundeswehr noch im Februar 2022 berechnete, für die bisherigen Zusagen würden „nur“ 1,5 Prozent des BIP benötigt.

Wie es weitergeht, ist also relativ unklar – wahrscheinlich werden die Eckwerte im kommenden Jahr wieder einkassiert und der offizielle Haushalt zwar nicht sofort komplett, aber wohl doch substanziell weiter in Richtung 2-Prozent-Ziel angehoben, um das Sondervermögen zu strecken.

Klar ist aber, dass das – plus die weiteren geplanten Sicherheitsmaßnahmen, die ebenfalls nicht aus dem Sondervermögen, sondern aus dem Bundeshaushalt bezahlt werden sollen – massiv zulasten anderer Budgets gehen wird, wo das Geld dringend gebraucht wird. Und klar ist auch, dass mit der Ampel-Unions-Einigung wohl die Grundlagen gelegt wurden, um aus Deutschland zumindest von den Ausgaben her dauerhaft die größte Militärmacht in Europa zu machen.

Olaf Scholz wird jedenfalls stolz in der Presse mit den Worten zitiert: „Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato verfügen.“

— 9. AGDF: Milliarden für Verteidigung sind „inhaltlich und demokratisch höchst fragwürdig“

https://friedensdienst.de/aktuelles/pressemeldung-der-agdf-milliarden-fuer-verteidigung-sind-inhaltlich-und-demokratisch

Pressemeldung der AGDF: Milliarden für Verteidigung sind „inhaltlich und demokratisch höchst fragwürdig“

18.5.2022

Die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) hat das geplante Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das im Grundgesetz verankert werden soll, wie auch die dauerhafte Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des deutschen Bruttosozialproduktes anzuheben, als „inhaltlich und demokratisch höchst fragwürdig“ bezeichnet.

Eigentlich sollte der Deutsche Bundestag in dieser Woche über das 100-Milliarden- Programm entscheiden, doch aufgrund von Differenzen zwischen Union und Ampel-Koalition wurde eine Abstimmung im Parlament verschoben.

„Vor größeren Ausgaben sollte zunächst geprüft werden, was für welchen Zweck benötigt wird“, betont Jan Gildemeister, der Geschäftsführer der AGDF. Doch die Bundesregierung mache es hier genau umgekehrt.

„So hat die Koalition in ihrer Vereinbarung eine Debatte über eine neue deutsche Sicherheitsstrategie angekündigt, doch die steht noch am Anfang. Zudem zeichnet sich ab, dass sie auf die Außenpolitik beschränkt und kein Vorhaben der gesamten Bundesregierung wird“, kritisiert Gildemeister.

Dabei sei es unklar, ob die Zivilgesellschaft und der Deutsche Bundestag in Gänze breit einbezogen werde. „Angesichts des gescheiterten Engagements des Westens in Afghanistan und den vielen Fragen, die das Engagement der Bundeswehr beispielsweise in Mali aufwirft, gibt es hier aber einen dringenden Bedarf für einen breit angelegten Diskurs“, macht der AGDF-Geschäftsführer deutlich.

Dabei müsse es um die Frage gehen, welchen Beitrag Deutschland für mehr Frieden in der Welt leisten kann und wolle. Und welche zivilen und militärischen Mittel es dafür bedürfe, so Jan Gildemeister.

Stattdessen beschränke sich die öffentliche Diskussion auf die Bundeswehr und neue Rüstungsvorhaben, bedauert der AGDF-Geschäftsführer, der die dabei verwendeten Argumentationen als unlauter bezeichnet. „Für eine bessere Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten, für einsatzfähige Waffensysteme oder ausreichende Munition bedarf es die vielen Milliarden nicht, da reicht vermutlich eine Reform des Beschaffungswesens“, kritisiert Jan Gildemeister.

Stattdessen würden die Milliarden in „teilweise hochproblematische neue Rüstungsvorhaben“ wie bewaffnungsfähige Drohnen oder das größte europäische Rüstungsprojekt „Future Combat Air System“ (FCAS) gesteckt. „Und nicht nur das: Die deutsche Teilhabe an Atomwaffen wird ohne Diskussion fortgeschrieben, deren Modernisierung durch die Anschaffung von teuren F18-Kampfflugzeugen unterstützt.

Wie an den Börsen zu sehen ist, gibt es schon einen Profiteur, nämlich die Rüstungsindustrie“, mahnt der AGDF-Geschäftsführer.

Nach Überzeugung der AGDF würden für eine militärische Abschreckung deutlich geringere Verteidigungsausgaben reichen. „Russland hat kein NATO-Land angegriffen und es ist unwahrscheinlich, dass es dies angesichts seiner massiven militärischen Unterlegenheit wagen wird“, glaubt Jan Gildemeister und verweist auf Angaben des schwedischen Forschungsinstituts SIPRI, wonach im vergangenen Jahr die Militärausgaben der europäischen NATO-Mitglieder doppelt so hoch, die Ausgaben der USA sogar fast zehn Mal so hoch wie die von Russland waren. „Dies spiegelt sich in der technologischen Überlegenheit der NATO wider“, so der AGDF-Geschäftsführer.

Und die AGDF hat einen weiteren Kritikpunkt: „Auf der Strecke bei dieser Diskussion bleibt die viel wichtigere Frage, was Deutschland zur Bekämpfung der Ursachen für Unfrieden und zur Förderung nachhaltiger Friedensprozesse und konstruktiver Konfliktbearbeitung tun sollte. Denn hier kann militärische Gewalt bekanntlich keinen Beitrag leisten“, mahnt Jan Gildemeister.

Und dies würde für ihn bedeuten: „Es wäre dringend notwendig, dass hier Prioritäten gesetzt werden hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu weniger Zerstörung der Natur, zu Klimaneutralität, zu Diplomatie, zur Stärkung internationaler Institutionen und dem Ausbau des Zivilen Friedensdienstes.

Doch stattdessen wird derzeit nur weitgehend unkritisch über militärische Investitionen gesprochen“, so der AGDF-Geschäftsführer.

10. Kontext: Wochenzeitung: Clemens Ronnefeldt: Ukrainekrieg und Diplomatie: Verhandeln, verhandeln, verhandeln

https://www.kontextwochenzeitung.de/ueberm-kesselrand/583/verhandeln-verhandeln-verhandeln-8220.html

Ukrainekrieg und Diplomatie

Verhandeln, verhandeln, verhandeln

Von Gastautor Clemens Ronnefeldt

Datum: 01.06.2022

(…) Der italienische Friedensplan ist eine Chance

Am 18. Mai 2022 legte die italienische Regierung zum ersten Mal einen mit dem UN-Generalsekretär und den G7-Staaten abgestimmten Friedensplan vor, der vier Stufen enthält, die aufeinander aufbauen.

1. Waffenstillstand: Dieser Waffenstillstand soll mit lokalen Kampfpausen beginnen, die von der OSZE oder den Vereinten Nationen überwacht werden. Ziel ist die Entmilitarisierung entlang der derzeitigen Frontlinie, wobei eine Pufferzone entstehen würde, die frei von Kämpfern beider Konfliktparteien ist.

2. Neutralität der Ukraine: Einem Waffenstillstand zeitlich nachgeordnet schlägt das italienische Außenministerium eine Friedenskonferenz zur Statusfrage der Ukraine vor. Sollte sich die ukrainische Regierung auf eine Neutralität des Landes einlassen, bräuchte sie Sicherheitsgarantien verschiedener anderer Staaten.

3. Lösung territorialer Fragen: Zeitlich wiederum nach einer Friedenskonferenz zur Frage der Neutralität der Ukraine schlägt die italienische Regierung bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland vor, die von einer neutralen Institution wie der OSZE oder den Vereinten Nationen moderiert werden könnten.

Inhaltlich würde es dabei um die Autonomie der Separatistengebiete bei Wahrung der territorialen Landesintegrität gehen. Konkret bräuchte es eine Regelung der sprachlichen und kulturellen Rechte sowie des freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs.

4. Europäischer Sicherheitspakt: Als vierte und letzte Stufe des italienischen Friedensplanes ist ein Abkommen über Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa vorgesehen. Abrüstung, Rüstungskontrolle, Konfliktverhütung und Vertrauensbildung würden dabei auf der Tagesordnung stehen.

Das Ziel des italienischen Friedensplanes ist der vollständige Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine und der Erhalt der territorialen Integrität der Ukraine. Die schrittweise Aufhebung von Sanktionen gegenüber Russland könnte in dem Maße erfolgen, wie die russischen Truppen den Boden der Ukraine verlassen.

Eine Wiederaufbau-Geberkonferenz könnte der notleidenden Zivilbevölkerung Perspektiven geben und die notwendigen Finanzmittel zur Beseitigung der Kriegsschäden bereitstellen.

Mögliche Richtungsänderung der US-Politik

Vor den US-Zwischenwahlen im November 2022 zeichnete sich Mitte Mai dieses Jahres nach einem Grundsatzartikel in der "New York Times" eine mögliche Wende der US-Politik bezüglich des Ukraine-Krieges ab.

Die Zeitung schrieb von "außerordentlichen Kosten und ernsten Gefahren" und verlangte von US-Präsident Joe Biden Antworten auf die Frage:

Wohin soll das alles führen? Die Ziele der US-Regierung in der Ukraine seien angesichts eines beabsichtigten 40-Milliarden US-Dollar schweren militärischen Soforthilfeprogramms für die Ukraine immer schwieriger zu erkennen – und mit enormen Gefahren für den Weltfrieden verbunden, ebenso mit enormen weiteren Kosten für die USA.

Die New York Times schrieb weiter: "Versuchen die Vereinigten Staaten beispielsweise, zur Beendigung dieses Konflikts beizutragen – und zwar durch eine Regelung, die eine souveräne Ukraine und eine Art von Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland ermöglicht?

Oder versuchen die Vereinigten Staaten jetzt, Russland dauerhaft zu schwächen? Hat sich das Ziel der Regierung darauf verlagert, Wladimir Putin zu destabilisieren oder ihn zu stürzen? Beabsichtigen die Vereinigten Staaten, Wladimir Putin als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen?"

Auch in der US-Politik bewegt sich etwas. US-Generalstabschef Mark Milley telefonierte Mitte Mai 2022 erstmals seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 mit seinem russischen Amtskollegen Waleri Gerassimow. In diesem Telefonat der ranghöchsten Generäle beider Länder sei es um "wichtige sicherheitsbezogene Themen" gegangen, wie ein Sprecher des US-Generalstabs erklärte. Das wirkt zwar noch etwas kryptisch, doch immerhin: Sie sprechen miteinander.

Dieses Sprechen und Verhandlen muss weitergehen. Der italienische Friedensplan braucht in den nächsten Monaten die Unterstützung des UN-Generalsekretärs und der OSZE, ebenso von nationalen Regierungen wie zum Beispiel den USA sowie europäischer Staaten, damit die russische Invasion und das Leiden der Menschen in der Ukraine endet.

Clemens Ronnefeldt, Jahrgang 1960, ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.

Dem Internationalen Versöhnungsbund gehören rund 100.000 Mitglieder in 50 Staaten der Erde an. Der Verband hat Beraterstatus bei den Vereinten Nationen.

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11. BSV-Online-Vortrag von Dr. Christine Schweitzer: Ohne Waffen, aber nicht wehrlos!

Zum nachfolgenden Vortrag kann sich jede interessierte Person einwählen:

https://www.soziale-verteidigung.de/node/625 Ohne Waffen, aber nicht wehrlos!

Mittwoch, 08.06.2022 - 19:00 Uhr bis 20:30 Uhr

Aus dem Widerstand gegen den Nazi-Faschismus wie auch aus anderen Auseinandersetzungen mit krasser militärischer Überlegenheit einer Seite kann man lernen, sich zu widersetzen, ohne sich auf die Militärlogik einzulassen. Diese Fälle wurden während des Kalten Krieges systematisch von Friedenswissenschafter*innen untersucht und zur Theorie der Sozialen Verteidigung zusammengefasst.

Denn damals war offenkundig, dass Europa mit Atomwaffen nicht zu "verteidigen" war, nur zu zerstören. Wir sollten uns daran erinnern: Soziale Verteidigung nennt man die gewaltfreie aktive Verteidigung eines Volkes gegen einen militärischen Angriff von außen oder einen Staatsstreich von Putschisten. Sie beruht auf den Prinzipien und Methoden der gewaltfreien Aktion, des Zivilen Widerstands und der Nicht-Zusammenarbeit. Das klingt theoretisch?

Deswegen bieten das Friedensmuseum Nürnberg und die DFG-VK Bayern ein Webinar an mit vielen Beispielen! Es wendet sich an Menschen, die ihr Wissen vertiefen möchten genauso wie an solche, die noch nie etwas von Sozialer Verteidigung gehört haben, aber verzweifeln angesichts der (selbst-)zerstörerischen Gewalt.

Vortragende ist Dr. Christine Schweitzer