Die vermeintliche Zeitenwende und die Friedensbewegung

Gespeichert von Rudi am
Image

Von Clemens Ronnefeldt

Am 17.2.2023 hielt ich den Hauptvortrag bei der Internationalen Münchner Friedenskonferenz. Der gesamte Vortrag ist zu sehen und zu hören unter:

www.youtube.com/watch?v=KSlAV8EO9Sk&ab_channel=DFG-VKBayernPazifistInnen

Nachfolgend einige meiner zentralen Botschaften.

Als Menschheit insgesamt stehen wir an einem sehr kritischen Punkt – der jede Person vor die Frage stellt: Möchte ich Teil des Problems oder Teil von konstruktiven Lösungen sein angesichts von Herausforderungen, die sich gerade hoch vor der Menschheit aufgetürmt haben?

Ich bin überzeugt, dass wir mehr aus der Geschichte lernen können als die Erkenntnis, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.

„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, – das war lange Zeit breiter Konsens nicht nur der Friedensbewegung, sondern auch der Zivilgesellschaft in Deutschland insgesamt.

Nach dem 1. Weltkrieg wurde Deutschland mit harten Sanktionen des Versailler Vertrages belegt, deren Auswirkungen die Entstehung des Nationalsozialismus und den Aufstieg Adolf Hitlers begünstigten.

Nach dem 2. Weltkrieg erhielt die junge Bundesrepublik Deutschland durch einen Marshall-Plan die Chance, trotz des Verbrechens der Shoa und mehr als 60 Millionen Kriegstoten, dank eines ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwunges demokratische Strukturen zu entwickeln und ihren Platz in der Völkergemeinschaft als anerkanntes Mitglied neu einzunehmen.

Ließen sich aus dieser unserer eigenen Erfahrung nicht Lehren ziehen zur Vermeidung künftiger Kriege?

Erleben wir derzeit eine Zeitenwende? Oder steht der aktuelle Ukraine-Krieg in einer längeren Reihe von Kriegen der letzten Jahrzehnte – und ist deren aktueller Kulminationspunkt?

War nicht schon der erste Einsatz der Nato ohne UNO-Mandat 1999 auch eine Zeitenwende?

Sind die Kriege in Irak und in Afghanistan – und der „Krieg gegen den Terror“ insgesamt nach den Terror-Anschlägen des 11. September 2001 mit mehr als 900 000 Toten auch „Zeitenwenden“ gewesen?

Eine aktuelle innerdeutsche Zeitenwende möchte ich an zwei Beispielen aufzeigen:

Im Bundestagswahlkampf warb die Partei Bündnis 90/Die Grünen mit dem Plakat: „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete. Bereit, weil ihr es seid“.

Welchen Schaden nimmt unsere Demokratie, wenn Parteien nach der Wahl in Regierungsverantwortung konträr zu dem handeln, wofür sie von Wählerinnen und Wählern gewählt wurden?

Am 6.2.2022 berichtete das ZDF in den Heute-Nachrichten: „Christine Lambrecht schließt Waffenlieferungen in die Ukraine weiterhin aus. Die Regierung liefere grundsätzlich keine Waffen in Krisengebiete, sagte die Verteidigungsministerin“.

Welchen Schaden nimmt unsere Demokratie, wenn z.B. der rechtsgültige Grundsatz verletzt wird, dass generell z.B. in Krisen- und Kriegsgebiete keine Waffen geliefert werden dürfen?

Wurden diese Grundsätze nicht mit guten Gründen aufstellt – z.B. deshalb, weil Waffenlieferungen Kriege verlängern und zu mehr Toten und Verletzten führen?

Selbstkritisch möchte ich anmerken:

Der Friedensbewegung insgesamt ist es m.E. nicht gelungen, im Bewusstsein zu halten, dass Frieden kein „Selbstläufer“ ist, sondern täglich neu durch hartnäckige und ausdauernde Gerechtigkeits- und Friedensarbeit im wahrsten Sinne „erarbeitet“ werden will.

Dazu zählt der konsequente Einsatz an der Seite aller Opfer in Kriegsgebieten ebenso wie für Menschen, die als Geflüchtete zu uns nach Deutschland kommen.

Zur Friedenarbeit zählt auch das Stellen kritischer Fragen, z.B:

  • Wo liegt der Vorteil, wenn die Bundesregierung Öl und Gas aus Russland ersetzt durch die Lieferung aus Staaten wie Saudi-Arabien, Katar oder Aserbaidschan, die ebenfalls Kriege gegen andere Länder führen?
  • Wo blieben die Sanktionen gegen die Türkei, als deren Regierung Syrien und Irak mit ihren Truppen und deutschen Panzern überfallen hat?
  • Warum gibt es in Deutschland Geflüchtete, die kostenlos mit der Bahn reisen und zügig Arbeitserlaubnis erhalten – und Geflüchtete, denen dies verwehrt wird?
  • Wie viele Tote weltweit aufgrund von Klimakatastrophen wird der Weiterbetrieb von fossilen Kraftwerken noch nach sich ziehen – und warum wurde Nordstream 2 überhaupt noch gebaut, wo Deutschland selbst eine leistungsfähige Wind- und Solarbranche hatte?
  • Ist es regelbasierte Politik, wenn die Bundesregierung in Venezuela einen Oppositionskandidaten als Regierungschef anerkennt, der inzwischen wieder aus dem politischen Leben des Landes verschwunden ist?

Aufgabe der Friedensbewegung und der Zivilgesellschaft insgesamt ist es auch, konstruktive Ideen vorzubringen.

Palme-Plan

Wer heute nach einem mittel- und langfristigen Friedensplan für Europa sucht, kann sich wieder inspirieren lassen vom so genannten Palme-Plan von 1982, benannt nach dem ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olaf Palme, der maßgeblich zur Überwindung des Ost-West-Konfliktes und zur deutschen Wiedervereinigung 1989/1990 beigetragen hat:

„Die Kosten und Gefahren des Rüstungswettlaufs, die Zunahme politischer Spannung und Instabilität, das Andauern konventioneller militärischer Konflikte, die steigende Gefahr eines nuklearen Krieges, die wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Belastungen durch Militärausgaben – all diese Probleme werden sich nicht lösen lassen, wenn die Nationen der Welt daran festhalten, auf gewohnten Wegen nach Sicherheit zu streben.

Solange sie hartnäckig versuchen, nationale Interessen einseitig zu schützen, und sich so verhalten, als ob sie ihre Sicherheit auf Kosten anderer gewinnen könnten, werden sie scheitern. Der ausgetretene Pfad des militärischen Wettstreits ist eine Sackgasse; er kann nicht zu Frieden und Sicherheit führen. (…)

Zu diesem Zweck fordern wir alle Nationen nachdrücklich auf, ihre Sicherheitspolitik neu zu überdenken. Wir hoffen, dass politische Führer und gewöhnliche Menschen in aller Welt wie wir zu der Erkenntnis kommen, dass Sicherheit nur miteinander, durch gemeinsame Zusammenarbeit erreicht werden kann.“

Was wollte und will die Zivilbevölkerung in der Ukraine?

Der Grundsatzbeschluss zur Nato-Beitrittsperspektive der Ukraine 2008 erfolgte auf dem Bukarester Nato-Gipfel gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Zwei Drittel der Bevölkerung in der Ukraine standen der Aufnahme ihres Landes in die Nato im Jahre 2008 skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Bei einer repräsentativen Umfrage des Kiewer Internationalen Institutes für Soziologie, veröffentlich im September 2015, lautete die Frage: „Welche Maßnahmen ergreifen Sie im Falle einer Intervention und im Falle einer Besatzung der jeweiligen Stadt“.

Eine deutliche Mehrheit sprach sich für die zivile Verteidigung des Landes gegenüber der militärischen aus, eine knappe Mehrheit hielt zudem die soziale Verteidigung des Landes für effektiver gegenüber der militärischen.

Drei Tage nach dem Völkerrechtsbruch durch die russische Armee, die ihr souveränes Nachbarland am 24.2.2022 überfiel, wandte sich der Sprecher der ukrainischen pazifistischen Bewegung, Dr. Yuri Sheliazhenko, an seinen eigenen Präsidenten und an den russischen Präsidenten mit der Botschaft: „Redet miteinander“ und forderte direkte Verhandlungen.

Von Beginn an gab es in der ukrainischen Zivilgesellschaft gewaltfreien Protest, besonders in der Großstadt Cherson.
Eine Studie zu den gewaltfreien Aktionen zwischen Februar und Juni 2022 unter Mitarbeit der Universität in Jena dokumentiert landesweit 148 Proteste und Diskussionen zwischen der ukrainischen Zivilbevölkerung und den russischen Besatzungssoldaten, 51 gewaltfreie Interventionen und 36 Aktionen der Nicht-Zusammenarbeit mit den Besatzungstruppen.

Gewaltfreier Widerstand der Zivilgesellschaft in Russland

Auch in Russland gibt es zivilen Widerstand gegen den Krieg. Bekannt geworden ist die Nachrichtensprecherin Marina Owsjannikowa, die ein Plakat in die Kamera des russischen Fernsehsenders hielt: „Kein Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen. Russen gegen Krieg“.

Hochverrat - so lautet der Vorwurf, den Abgeordnete des Rates des Bezirks Smolninskoje im Zentrum von St. Petersburg gegen Wladimir Putin erhoben.  Sie stimmten am 7. September 2022 dafür, eine Petition an die Staatsduma der Russischen Föderation zu richten.

Sie enthält die Aufforderung, den russischen Präsidenten des Amtes zu entheben – wegen seines militärischen Vorgehens gegen die Ukraine, das in Russland nicht als Krieg, sondern nur als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet werden darf.

Zwischen Januar und September 2022 sind mehr als 600 000 Menschen aus Russland in die EU geflüchtet. Unter ihnen geschätzt etwa 145 000 wehrdienstpflichtige Männer, die sich so dem Krieg entzogen haben. Unter den mehr als vier Millionen Geflüchteten aus der Ukraine in die EU waren geschätzt etwa 150 000 wehrpflichtige Männer.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den Asyl-Antrag eines russischen Kriegsdienstverweigerers im Januar 2023 ab. Begründung:  Eine allgemeine Mobilmachung in Russland sei nicht zu erwarten.
Diese Praxis gilt es zu ändern – und russischen ebenso wie ukrainischen Kriegsdienstverweigerern in Deutschland Asyl zu gewähren.

Friedensarbeit in Deutschland

Zwei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine demonstrierten mehr als 100 000 Menschen in Berlin für eine Beendigung des Krieges und für Solidarität mit den Opfern.

Zur Friedensarbeit gehört auch, Missstände ins Bewusstsein zu heben – um diese abzustellen.

Der Rüstungskonzern Rheinmetall baute ab 2011 in Russland für mehr als 100 Millionen Euro für die russische Regierung eine Übungsstadt, in der in den letzten Jahren jährlich mehr als 30 000 russische Soldaten für den Häuserkampf ausgebildet wurden.

Nicht zum ersten mal zeigt sich, dass Rüstungsexporte spätere Langzeitfolgen haben: Wer Rüstung exportiert, wird möglicherweise irgendwann später mit Geflüchteten konfrontiert.

Zur Zivilgesellschaft zählen auch die Kirchen. „Verachtet Verhandlungen nicht“, sagte Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Ende Oktober 2022 und forderte Waffenstillstandsgespräche.

Am 15. Februar 2023 rief der Philosoph Jürgen Habermas zu Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und zur Beendigung des Ukraine-Kriegs auf. Der Westen stehe in der Pflicht, unabhängig von der ukrainischen Regierung „eigene Initiativen für Verhandlungen zu ergreifen“.

IPPNW hat alle bisherigen Vorschläge für Friedensverhandlungen – von Istanbul im März 2022 über den italienischen Friedensplan des italienischen Außenministeriums bis zu den jüngsten Initiativen – in einem Dossier zusammengefasst, das ich zur Lektüre empfehlen möchte.

In Deutschland fordert die Kampagne: „Stoppt das Töten in der Ukraine“:

  • diplomatische Initiativen durch die deutsche Bundesregierung, die EU, die Vereinten Nationen, die OSZE und andere
  • einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen unter Einbeziehung aller relevanten Akteur*innen
  • den Rückzug des russischen Militärs aus der Ukraine
  • alles zu tun, um einen Atomkrieg zu verhindern und den UN-Atomwaffenverbotsvertrag voranzutreiben sowie
  • den Ausstieg aus fossilen Energieträgern, um keine weitere Finanzierung des Krieges zu ermöglichen und die Klimakatastrophe abzuwenden.

Zum Zusammenhang von Militarismus, Reichtum und Klima

Der letzte Punkt leitet über zu einem Punkt, über den „Die Welt“ im Herbst 2020 unter der Überschrift „Krieg und Rüstung: Die vergessenen Klimasünder“ berichtet hat:

„Allein der Irakkrieg soll laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation „Oil Change International“ von 2008 jährlich so viel CO2-Ausstoß verursacht haben, dass nur gut 50 Staaten den Ausstoß dieses einen Einsatzes übertrafen.

Für Aufsehen sorgte zudem eine Studie der Brown University.

Ein Forscherteam bezifferte den Kohlendioxidausstoß des US-Verteidigungsministeriums zwischen 2001 und 2017 auf 1,2 Milliarden Tonnen. (…)  Das ist mehr als Industrieländer wie Schweden verursachen.

Wie dramatisch die aktuelle Klima-Lage ist, zeigte „Die Zeit“ am 14.2.2023 mit den Überschriften: „Neuseeland ruft nach Tropensturm den nationalen Notstand aus“ und „Südafrikas Regierung ruft landesweiten Katastrophenfall aus“.

In Pakistan waren 2022 rund 33 Millionen Menschen von der Flut betroffen, ein Drittel des Landes stand unter Wasser.

Auch in Nigeria waren 2022 riesige Flächen überflutet, während z.B. in Deutschland wegen Trockenheit das Baumsterben im Harz dramatische Ausmaße annahm.

Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit – und deswegen fordert die Friday for Future-Bewegung „Klimagerechtigkeit“.

Das ARD-Magazin Panorama brachte dazu am 12. Januar 2023 einige Impulse:

Das reichste eine Prozent der Menschheit stößt mit 8,5 Milliarden Tonnen deutlich mehr Treibhausgase aus als die ärmere Hälfte der Menschheit mit 6,1 Milliarden Tonnen.

Der CO2-Durchschnittsausstoß in Deutschland liegt bei ca. 11 Tonnen pro Person, bei Millionären bei ca. 100 Tonnen – und bei Superreichen mit mehr als 20 Millionen Euro Vermögen bei 2300 Tonnen.

Es ist Aufgabe der Politik, hier z.B. durch Steuern auf abgabefreie Luxusjachten oder die Anhebung von Spitzensteuersätzen Abhilfe zu schaffen – damit der soziale Frieden nicht weiter gefährdet, sondern erhalten werden kann.

Symbolisch gesprochen geht es darum, die mit Überfluss gedeckten Tische länger statt die Zäune höher zu machen, zu teilen statt zu töten.

„Die größte Schwäche der Gewalt ist, dass sie in eine Abwärtsspirale führt, die genau das, was sie zerstören will, erzeugt“ – hat Martin Luther King jr., Friedensnobelpreisträger und Mitglied des Internationalen Versöhnungsbundes, einmal gesagt.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, lautet ein Zitat von Friedrich Hölderlin.

Diese Rettende wächst aber nicht von selbst. Es braucht unsere Köpfe, unsere Herzen und unsere Hände.

Ich möchte zum Wachstum des „Rettenden“ die Bücher von zwei Frauen empfehlen:
Charlotte Wiedemann: „Den Schmerz der anderen begreifen“ und Eva von Redecker: „Revolution für das Leben“.